DAS PHONETIK-BLOG [foˈneːtɪkˌblɔk]


Montag, 28. Dezember 2009
Forvo: Letzte Nachlese [Fester Link zum Beitrag]
Im Grunde ist alles gesagt zu dem Thema, aber zwei besonders hübsche Perlen sollen hier noch ihren Platz finden. Da wäre zum einen das Wort ›abalienieren‹, das laut Wörterbuch entweder ›entfremden‹ oder ›verkaufen‹ bedeutet. Dies ließe bereits erahnen, dass der Begriff über das gleichbedeutende lateinische Präfixverb ›abaliēnāre‹ auf ›aliēnus‹ für ›fremd‹ zurückgeht. Unberührt von solchen Erkenntnissen sagt der User, der die Lautung bei ›Forvo‹ hochgeladen hat, [abaliˈniːʁən] – statt dem korrekten [ˌapˀali̯eˈniːʁən]. Er schlägt das ›b‹, wie etwa in ›Abalone‹, der zweiten Silbe zu, sodass es weitgehend stimmhaft bleibt, und versteht beide ›e‹ als Dehnungszeichen, obwohl dies nur für das zweite gilt. Womöglich sollte man das Trema im Deutschen wieder einführen und ›abaliënieren‹ schreiben. Ebenfalls und zum anderen missglückt ist die Aussprache des Juristen Samuel von Cocceji. Es hätte genügt, in der Wikipedia nachzusehen, um durch die dortige eher rudimentäre IPA-Angabe eine Idee zu bekommen, wie der Name gängigerweise artikuliert wird. Probiert man es ohne Netz und doppelten Boden, wird aus [kɔkˈt͜seːji], so heißt es richtig, eben [ˈkɔkəd͜ʒiː]. In der Autowerkstatt würde man so etwas wahrscheinlich einen Totalschaden nennen.



Donnerstag, 24. Dezember 2009
Forvo: Gesammelte Highlights [Fester Link zum Beitrag]
Beim Stöbern auf forvo.com (siehe vorheriger Artikel) bin ich auf zahlreiche Einträge gestoßen, bei denen ich mich gewundert habe, warum sich Leute nicht entblöden, Wörter einzusprechen, deren gängige Lautung ihnen nicht geläufig ist. Hier eine kleine Auswahl, wobei die zu hörende, falsche Aussprache mit einem Asteriskus versehen ist:
  • Abduzens: *[apduˈt͜sɛns] statt [apˈduːt͜sɛns]
  • Aktienfonds: *[-fɔnt͜s] statt [-fɔ̃]
  • Aliasing (dt.): *[ɛliˈeɪ̯zɪŋ] statt [ˈeɪ̯liəsɪŋ]
  • Auspitz (heute Hustopeče): *[ˈaʊ̯ʃpɪt͜s] statt [ˈaʊ̯spɪt͜s]
  • Bad Bergzabern: *[bɛɐ̯kˈt͜saːbɐn] statt [ˈbɛʁkt͜saːbɐn]
  • Hans Holbein: *[ˈhoːlbaɪ̯n] statt [ˈhɔlbaɪ̯n]
  • Franz von Lenbach: *[ˈlɛnbax] statt [ˈleːnbax]
  • Maligne¹: *[maˈliːn] statt [maˈlɪɡnə]
  • Marktredwitz: *[maːɐ̯ktˈʁeːtvɪt͜s] statt [maːɐ̯ktˈʁɛtvɪt͜s]
  • Oregano: *[oʁeˈɡaːnoː] statt [oˈʁeːɡano]
  • Poing: *[pɔɪ̯ŋ] statt [ˈpoːɪŋ]
  • 1: Sofern ich das richtig als das Adjektiv maligne, ›bösartig‹ interpretiere.
Hinzu kommen Dutzende weniger eindeutige Problemfälle, die ich hier nicht nenne, da sich nicht feststellen lässt, ob die Aufnahmen so merkwürdig sind, weil die Sprecher – wie bei den genannten Begriffen – keine Ahnung hatten, wie das Wort in der Regel lautet, oder weil ihre phonetische Umsetzung einer richtigen Phonemfolge ungewöhnlich ist. Exemplarisch dafür ist die Aufnahme des Rebsortennamens Müller-Thurgau, dessen zweiter Bestandteil bei dem Sprecher [ˈtʊʁɡaʊ̯] lautet, obwohl [ˈtuːɐ̯ɡaʊ] richtig wäre. Das kann Inkompetenz sein in diesem Fall, aber auch, zum Beispiel, die Folge einer überzogenen Bemühung um korrekte Aussprache: Vokalisiertes /r/ wird von einigen (grundlos) als nachlässig empfunden, ist nach langem Vokal aber zwingend; deshalb wird – so könnte man sich vorstellen – der Vokal zu [ʊ] gekürzt und zentralisiert, um den Weg für die konsonantische Aussprache freizumachen. Klären lässt sich das nicht, weshalb solche Einträge hier ausgeklammert bleiben, aber natürlich auch keine leuchtenden Beispiele für den praktischen Nutzen von ›Forvo‹ sind.

Noch ein Nettes: Wer nach ›Katar‹ sucht, gelangt zu einem Eintrag in der Kategorie ›illness‹, bei dem eine Polin in ihrer Muttersprache das Wort für ›Schnupfen‹ artikuliert. Zusätzlich dort zu finden sind zwei deutsche Lautungen, von denen nicht klar ist, ob sie sich auf das arabische Land beziehen oder auf eine Falschschreibung von ›Katarr(h)‹. Nehmen wir zugunsten der Sprecher an, dass es um den Schnupfen geht, denn nur dafür ist die zu hörende Aussprache halbwegs richtig; das Land betont man auf der ersten Silbe. Auch bei ›Jus‹ weiß man nicht so recht, ob die angebotene Aussprache [juːs] richtig oder falsch ist: Für Rechtswissenschaft ist die Lautung zutreffend, für Fleischsaft nicht – den bezeichnet man nämlich, wie im Französischen, als [ʒyː]. Und dass die Apenninen [apɛˈniːnən] bei ›Forvo‹ als [apəˈnɪnən] zu hören sind, könnte daran liegen, dass sie dort als ›Apeninnen‹ (sic!) verzeichnet sind. Auch im Irrtum ist Konsequenz wichtig – und in der Fehlsegmentierung: Oder heißt der Fußballer Per Mertesacker [ˈmɛʁtəs.akɐ] etwa [ˈmɛʁtə.zakɐ], wie hier zu hören ist? Immerhin empfand noch jemand die Version mit [z] als ›Bad‹. Ebenfalls ›Bad‹ oder zumindest äußerst strange sind Einträge, bei denen ausländische Namen in einer, behaupte ich, ungebräuchlichen eingedeutschten Fassung zu hören sind: Gibt es ernsthaft jemanden, der den französischen Präsidenten Sarkozy, im Original [saʀkɔˈzi], als [zaːɐ̯ˈkoːzi] ausspricht? Anscheinend schon. Noch kurioser erscheint mir der Fall des flämischen Malers Pieter Coecke van Aelst, korrekt [ˈpitəɾ ˈkukə vɑn aːlst], zu dem es nicht nur diese gute Aufnahme eines Belgiers gibt, sondern auch die eines Deutschen, der [ˈkøːkə fan ˈɛːlst] sagt. Sehr hilfreich.



Mittwoch, 23. Dezember 2009
Forvo.com ist eine kostenlose Website, auf die viele, die sich für die Aussprache von Begriffen in anderen Sprachen interessieren, bereits gestoßen sein dürften. Aufnahmen von ›all the words in the world‹, so heißt es, durch Muttersprachler – das klingt attraktiv und zumindest einer näheren Betrachtung wert, ob das Konzept der Seite tragfähiger ist als das bemitleidenswerte Logo, auf das der Blick des Besuchers nun einmal zuerst fällt.

Die Seite ist unkompliziert aufgebaut; wesentliche technische Hürden gibt es nicht. Wer etwas sucht, kann sowohl via Suchmaschine auf die Seite finden als auch dortselbst über die Suchmaske zu Einträgen gelangen. An diesem Punkt sollte man über eine Soundkarte und ein Audioausgabegerät verfügen, denn die Seite bietet keinerlei Lautschrift, sondern – wie erwähnt – Aufnahmen durch Laien-Nativespeaker der jeweiligen Sprache. Damit nutzt die Seite im Prinzip jedem Hörenden – und nicht nur, wie auch dieses Blog, einem kleinen Kreis akademischer IPA-Fans. Wer eigene aufgenommene Lautungen hochladen oder fehlende Aussprachen erbitten will, kann das nach unkomplizierter, anonymer Anmeldung. Inhaltlich liegt der Fokus, den die Beitragenden bestimmen, auf Eigennamen; es interessiert eben mehr Leute, wie Paulo Coelho ausgesprochen wird als wie ›rir‹ in der ersten Person Plural des konjunktivischen Mais-que-Perfeito Composto lautet (nós tivéssemos rido).

Damit sind Reiz und Crux bereits beschrieben. Wie bei jedem Projekt, das auf Userbeteiligung basiert und nur durch minimale redaktionelle Eingriffe gesteuert wird, stehen auch bei ›Forvo‹ Gutes und Schrott nebeneinander – wobei ich mich auf den Inhalt beziehe und nicht auf die oft mäßige akustische Güte der Beiträge. Die Aporie benutzergenerierter Inhalte besteht darin, dass diese sich einerseits an die richten, die etwas wissen wollen, andererseits aber vieles bereithalten, das nur der, der bereits weiß, richtig einordnen kann. Wenn ich weiß, dass sich Robert Musil korrekt [ˈmuːsɪl] (bzw. mit [z] für Nicht-Österreicher) ausspricht, kann ich darüber schmunzeln, dass es zwei Einträge gibt, in denen [muˈziːl] angegeben wird. Wenn nicht, blamiere ich mich eventuell. Die Möglichkeit, als Benutzer über die Qualität der Aufnahmen abzustimmen, soll derartige Irrtümer verhindern helfen und bringt in diesem Fall – gar nichts: Die falsche Aussprache wurde je ein bzw. drei Mal von anderen Deutschen als ›Good‹ bewertet. Wer nachprüfen möchte, ist am Ende wieder auf ein kostenpflichtiges, gedrucktes Werk wie den Aussprache-›DUDEN‹ angewiesen. Im aktuellen Rahmen scheint es kaum abzustellen, dass Ahnungslose Ahnungslosen applaudieren. Die Funktion ›Report word‹ ist, wenn ich das richtig verstehe, nur für Fälle gedacht, in denen das betreffende Wort “does not really exist, is offensive or similar”. Mehr Klarheit würde weder geschaffen, indem man die falschen Aufnahmen mit einem einzelnen ›Bad‹ bewertete, noch durch das Hochladen einer Aufnahme der korrekten Aussprache. Im Fall von ›Kopenhagen‹, das üblicherweise [koːpn̩ˈhaːɡn̩] lautet und bei ›Forvo‹ von einem etwas nachlässigen Sprecher als [kɔpn̩ˈhaːɡn̩] artikuliert wird, wäre wohl noch etwas zu retten. Schade nur, dass man die Aufnahme von ›Zweibrücken‹ [ˈt͜svaɪ̯bʁʏkn̩] mit falscher Betonung auf der zweiten Silbe trotz Tippfehler in der Benennung (›u‹ statt ›ü‹) finden kann.

Noch schwerer als unzutreffende Aussprachen ist zu verhindern, dass konkurrierende Lautungen für denselben Begriff hochgeladen werden. Hier wäre erneut eine kundige Kommentierung der Aufnahmen hilfreich, um die Schwankungen zu ergründen. User sind zwar gehalten, auf einer Karte anzugeben, wo ihre Varietät beheimatet ist, aber das ist eine kaum hilfreiche Angabe, wenn es nicht gerade um gröbste geografische Unterscheidungen (Irland oder Australien, Portugal oder Brasilien) geht. Nicht jeder, der in Erfurt wohnt, spricht hörbar Thüringisch. Unklar bleibt demnach, ob eine auf den ersten Blick merkwürdige Aussprache regional gebräuchlich ist oder schlicht falsch. Wer zum Beispiel wissen will, wie Cees Nootebooms Vorname im Niederländischen lautet, findet einmal [keːs] und einmal [seːs], wobei Letzteres nach meinen Informationen korrekt ist. Ohne externe Quellen hinzuzuziehen, ist der Ratsuchende an dieser Stelle so klug als wie zuvor. Manches Wörterbuch, in dem kommentarlos zwei Möglichkeiten aufgeführt werden, ist in dieser Hinsicht nicht besser; bloß ist dort wahrscheinlicher, dass nicht eine der beiden Varianten lediglich mangelnder Sachkenntnis geschuldet ist. Und: Wo man sich in Lautschrift auf ein Phonem festlegen muss, können Differenzierungen in den Aufnahmen mit einem auf halben Weg zwischen den Möglichkeiten liegenden Laut weggenuschelt werden.

Eine zusätzliche kleinere Schwäche der Seite liegt darin, dass nicht-lateinische Schriften sehr uneinheitlich – und damit so gut wie unauffindbar – transkribiert werden. Dass ich auf eine akzeptable Aufnahme von Anton Pavlovič Čechovs Namen unter dessen spanischer Umschrift ›Antón Chéjov‹ gestoßen bin, war nur dem Zufall zu verdanken; mit der wissenschaftlichen Transliteration oder der deutschen Fassung ›Tschechow‹ blieb die Suche ergebnislos. So gehen Einträge praktisch verschütt, die das gar nicht verdient haben. Dasselbe kann passieren, wenn auf umständliche Transkriptionen direkt verzichtet und der Eintrag in der ursprünglichen Schrift, etwa Arabisch, gemacht wird, die für alle ohne entsprechende Tastaturbelegung schwer einzugeben ist. Wieder wird eine Diskrepanz deutlich, die sich auftut zwischen den notwendigen bis wünschenswerten Kenntnissen, um die Seite voll auszuschöpfen, und den mutmaßlichen Kenntnissen der anvisierten Gruppe derer, die ohne Vorkenntnisse dazulernen wollen. Hier wäre eine Standardisierung nicht nur angenehm, sondern unerlässlich, damit nicht Dutzende Einträge in Quasi-Orkus verschwinden.

Für Phonetiker, die gar nicht wissen wollen, wie ein bestimmtes Wort ausgeprochen wird, ist die Seite eine Fundgrube voller Aussprachen in diversen Schattierungen. Vielleicht ist das die Gruppe, die mit ›Forvo‹ auf dem derzeitigen Stand die meiste Freude habe kann. Wenn es darum geht, die als richtig geltende Aussprache – insbesondere eines Eigennamens, bei dem es wenig Spielraum für Idiotismen gibt – herauszufinden, ist ›Forvo‹ als (einzige) Quelle zu wackelig. An eigener Recherche oder einem Blick in die einschlägigen Wörterbücher führt wenig vorbei. Doch: Die zugrunde liegende Idee ist gut und vor allem dahingehend ausbaufähig, dass die Seite nicht nur lustig bis kurios, sondern zunehmend nützlich ist.



Samstag, 5. Dezember 2009
Wörter-[buːx] XIV [Fester Link zum Beitrag]
  • Traian Băsescu: [traˈjan bəˈse̞sku]
  • Colgate: [ˈkoʊ̯lɡeɪ̯t] (engl.) bzw. [kɔlˈɡaːtə] (dt.)
  • Lienz: [ˈliːɛnt͜s]
  • Maribor: [ˈmaːribɔr]
  • Millî Görüş: [miˈlʲi ɡʲø̞ˈɾyʃ]
  • György Sebestyén: [ɟørɟ ˈʃɛbɛʃceːn]
  • Vaihingen: [ˈfaɪ̯ɪŋən]
  • Herman Van Rompuy: [ˈɦɛrmɑn vɑn ˈrɔmpœy̑]
Anmerkung zu Colgate: Deutschland ist eine ›Insel‹ in Europa. Hier spricht man den Namen dieser Zahnpasta nicht nach amerikanischem Muster aus, dem etwa im Niederländischen oder Französischen zu folgen versucht wird. Interessanterweise besteht die Entsprechung des englischen Diphthongs [oʊ̯], der auf früheres [oː] bzw. [ɔː] zurückgeht, nicht immer im längeren ›O‹-Laut der jeweiligen Sprache; so heißt es im österreichischen Deutsch, das den bundesrepublikanischen Sprachgebrauch weder übernimmt noch beeinflusst, eher [ˈkɔlɡeːt] als [ˈkoːl-] – jedenfalls bei Sprechern, die versuchen, die Laute des Englischen auf native Phoneme abzubilden. Italiener und Spanier sprechen, wie die Deutschen, das Produkt aus, als habe es einen einheimischen Namen: [kolˈɡate] bzw. [kolˈɰate].

Anmerkung zu Herman Van Rompuy: Am Abend des 19. 11. 2009 muss in vielen deutschen Fernseh- und Radioredaktionen wieder gedacht worden sein: »Hätte es denn kein anderer werden können?« Nicht, dass der belgische Premierminister als künftiger EU-Ratspräsident für unqualifiziert gehalten würde – aber der Name! Dementsprechend kreativ fielen die ersten Ausspracheversuche aus – mal näher am niederländischen Original, bei einigen Brüsseler Korrespondenten, mal weiter davon entfernt, wie bei Gabi Bauers Versuch [fan ˈrɔmpui̯]. Inzwischen haben sich die öffentlich-rechtlichen Sender wohl auf [fan ˈrɔmpɔɪ̯] als Eindeutschung geeinigt. Ich hätte für eine stärkere Annäherung an die Originalaussprache plädiert, aber auf dem Boden der deutschen Phoneme und deren üblicher Realisierungen, auf dem sich ›tagesschau‹ & Co. bewegen, ist nicht wesentlich mehr möglich. Das Niederländische bereitet dabei nicht viel weniger Schwierigkeiten als manch – germanozentrisch gesehen – ›abseitigere‹ Fremdsprache. Zu dessen belgischer Varietät ist ohnehin anzumerken, dass die ›nackten‹ IPA-Symbole teilweise nur einen Anhaltspunkt geben, wie der Laut tatsächlich klingt: Das [ɑ] ist, genauer gesagt, ein [ɑ̽], das [ɛ], präziser angegeben, ein [ɛ̝̈], und hinter dem Diphthong [œy̑] verbirgt sich so etwas wie [ɞ̞ʏ̯̽]. Das sind etwas größerere Abstände als üblich zwischen im Mittel produziertem Laut und verwendetem Zeichen.



Donnerstag, 8. Oktober 2009
Literaturnobelpreis 2009 [Fester Link zum Beitrag]
Der Einstieg in diesen Artikel ist keine phonetische Beobachtung, sondern eine am Rande der literarischen Öffentlichkeit gemachte: Dieses Jahr wollte ich wieder einen Artikel anbieten zu den inoffiziellen Kandidaten für den Literaturnobelpreis, von denen geraunt wird. Natürlich sind diese Listen nichts als Kaffeesatzleserei, aber eine der amüsant-harmlosen Art, verschafft sie doch eine überblicksartige Momentaufnahme, wer in den Feuilletonredaktionen, den Universitäten, den Verlagen geschätzt wird – und vielleicht in seiner Wirkung auf die schwedische Akademie auch falsch eingeschätzt. Als kurios fiel mir nun ins Auge, dass auf den Listen, die dieses Jahr kursieren, wieder praktisch dieselben Namen stehen wie schon im Oktober 2007 und 2008, Namen, die jeder, der sich für Literatur interessiert, kennen und aussprechen können sollte: Thomas Pynchon, Amos Oz, Běi Dǎo, Haruki Murakami, Claudio Magris usw. Es ist wie die Dirndlmode fürs Oktoberfest, die sich – abgesehen von ein paar Verzierungen in der Modefarbe des jeweiligen Jahres – stets wiederholt. Das ist keine neue Tendenz und auch keine, die bisher nur mir aufgefallen wäre: Dass Autoren wie der 2008 ungenobelt verstorbene Hugo Claus oder der noch lebende, auch dieses Jahr allerorten genannte António Lobo Antunes sich über die Rolle des ewigen Nobelpreis-Favoriten beklagt haben sollen, ist wohl zwischen Koketterie und echter Irritation anzusiedeln.

Wer also sind die Farbtupfer dieses Jahres? Da wäre zum Beispiel eine nicht mehr ganz taufrische Newcomerin, die 56-jährige Herta Müller [ˈhɛʁta ˈmʏlɐ] aus Berlin – eine seit ihrem Debüt ›Niederungen‹ (1984) und derzeit wieder für ihren Roman ›Atemschaukel‹ im Feuilleton gepriesene, aber meines Wissens nicht viel gelesene Autorin. In Deutschland noch weniger wahrgenommen werden die aus Algerien stammende, auf Französisch schreibende Assia Djebar [aˈsja d͜ʒeˈbaʀ], die als wichtige Stimme des Maghreb gilt, und der syrische Lyriker Adunis (أدونيس) [ædʊˈniːs], was mit der Gattung seiner Texte zu tun haben könnte, die viele für generell schwerer übersetzbar halten als epische oder dramatische Werke. Als Außenseiter muss man den inzwischen betagten Spanier Luis Goytisolo [lwis ɡoi̯tiˈsolo] bezeichnen, ebenso wie den Österreicher Peter Handke [ˈpeːtɐ ˈhantkə], den Tschechen Arnošt Lustig [ˈarno̞ʃt ˈlustɪk] sowie den US-amerikanischen Romancier Edgar Lawrence Doctorow [ˈɛdɡɚ ˈlɑːɹəns ˈdɑːktəɹoʊ̯]. Und wer wird es nun? In knapp elf Stunden wissen wir es – auch, ob die Aussprache des Preisträger-Namens hier schon zu lesen war.

Nachtrag: Sie war es – herzlichen Glückwunsch, Frau Müller!



Mittwoch, 7. Oktober 2009
Wörter-[buːx] XIII [Fester Link zum Beitrag]
  • Elektrostal (Электросталь): [ɪlʲɪktrʌˈstalʲ]
  • Gcina Mhlope: [ˈɡǀʱiːna ˈmɬɔːpe]
  • Erlend Øye: [ˈæːɭən ˈœ̯ɥə]
  • PASOK (ΠΑΣΟΚ): [paˈso̞k]
  • Jan Skácel: [jan ˈskaːt͜sɛl]
  • Arjen Robben: [ˈɑɾjən ˈɾɔbən]
  • José Sócrates Carvalho Pinto de Sousa:
    [ʒuˈzɛ ˈsɔkɾɐtɯʃ kɐɾˈvaʎu ˈpĩntu dɯ ˈsozɐ]
  • Scotstoun: [ˈskɒt͜stən]
Anmerkung zu Gcina Mhlope: Die Lautung des Namens der Geschichtenerzählerin aus Südafrika bezieht sich auf die Muttersprache ihrer Mutter, Xhosa. Anders als mitunter behauptet wird, sind es nicht nur Khoisan-Sprachen (wie !Xóõ mit dem weltweit wohl größten Lautinventar von über 150 Phonemen), in denen Klicklaute vorkommen; Xhosa ist, wie Zulu, eine Bantu-Sprache der Niger-Kongo-Familie. Im Xhosa kommen drei Schnalzlaute, wie man diesen Typus auch nennt, vor: Erstens der dentale Klick [ǀ] der orthografisch als ›c‹ repräsentiert wird; phonetisch ähnelt er dem Geräusch, durch das hierzulande Tadel ausgedrückt und das im Englischen oft ›tut‹, im Deutschen meist ›Ts(k)!‹ geschrieben wird. Für, zweitens, den (post)alveolaren Klick [ǃ] steht das ›q‹ im Alphabet, während, drittens, der alveolar-laterale Klick [ǁ] durch ›x‹ ausgedrückt wird – wie in ›Xhosa‹, das demnach [k͜ǁʰɔːsa] lautet. Was diese Transkriptionen im Übrigen auch verdeutlichen, ist die Unzulänglichkeit der Klick-Symbole im Internationalen Phonetischen Alphabet: Die Zeichen für den dentalen bzw. alveolar-lateralen Klick, bis 1989 [ʇ] bzw. [ʖ] geschrieben, ähneln denen, die intonatorische Grenzen anzeigen ([|] bzw. [‖]), und – vor allem in serifenlosen Schriften – Buchstaben wie ›I‹ oder ›l‹. Auch erscheint mir das alte [ʗ] eindeutiger als das aktuelle [ǃ]. Es wäre zu wünschen, ist aber unwahrscheinlich, dass die Entscheidung nach 20 Jahren revidiert wird. Immerhin ist die Symbolform des lateralen Frikativs [ɬ], der ebenfalls im Xhosa und in Mhlopes Namen vorkommt, klar von anderen Zeichen unterscheidbar.



Sonntag, 7. Juni 2009
Wörter-[buːx] XII [Fester Link zum Beitrag]
  • Arcandor: [aʁˈkandoːɐ̯]
  • Rubens Gonçalves Barrichello: [ˈhubẽɪ̯̃s ɡõˈsaʊ̯vɪs bahiˈkɛlʊ]
  • Peter Chotjewitz: [ˈpeːtɐ ˈkɔtjəvɪt͜s]
  • Hélène Cixous: [eˈlɛn sikˈsus]
  • Diaspora: [diˈaspora] (dt.)
  • Louis van Gaal: [luˈi fɑn χaːl]
  • Anna Karenina (Анна Каренина): [ˈanə kʌˈrʲenʲɪnə]
  • Tiān’ānmén (天安门): [˥˥ tʰi̯ɛn ˥˥ an ˧˥ mən]
Anmerkung zu Arcandor: Die Nachrichtenagentur ›dpa‹ hat in dieser Woche eine Linguistin zur Aussprache des Konzernnamens befragt und wollte wissen, ob man das Kunstwort nur auf der zweiten oder auch auf den anderen beiden Silben betonen könne. Elke Ronneberger-Sibold von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt ließ wissen: »Keine dieser Aussprachen ist falsch. […] Die Betonung hängt nur von unterschiedlichen Sprachmustern ab.« Und weiter in indirekter Rede: »Betone man die ersten beiden Silben, entspreche dies der Tonposition in germanischen Sprachen, wie etwa im Wort Alkohol. Liegt die Betonung auf den hinteren Silben, richte sie sich nach lateinischen Lehnwörtern wie Abitur.« Diese Aussagen bedürfen der Korrektur, auch wenn ich ihre Qualität nicht der Professorin anlasten möchte; sie mag in der Meldung verkürzt oder falsch wiedergegeben worden sein. Zum Ersten existiert, was die Lautung von Propria angeht, sehr wohl eine Instanz, die über falsch oder richtig entscheidet: der Namensinhaber – anders als etwa bei Appellativen, wo sich eine Sprechergemeinschaft, von der kein Mitglied ›Besitzansprüche‹ auf ein Wort erheben kann, auf eine Aussprache einigen muss. Die oben angegebene Lautung [aʁˈkandoːɐ̯] ist demnach die einzig korrekte, weil vom Träger der Wortschöpfung für richtig befunden. Notabene: die einzig korrekte, nicht die einzig mögliche. So ist es auch nicht falsch, beispielsweise den deutschen Nachnamen ›Schmid‹ als [ʃmɪt] auszusprechen; dagegen, so genannt zu werden, protestierten indes diejenigen, die sich bei derselben Schreibweise [ʃmiːt] aussprechen, mit Recht. – Zum Zweiten ist die Aussage, dass keines der Betonungsmuster einem der anderen vorzuziehen sei, nicht präzise. In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass die Fuß- bzw. Morenstruktur oder das Silbengewicht (da streiten sich die Phonologen) Einfluss auf den präferierten Wortakzent nimmt, wenn man deutsche Muttersprachler morphologisch opake Pseudowörter aussprechen lässt. ›Arcandor‹ besteht aus drei Silben, die – durch einen Coda-Konsonanten oder einen Diphthong im Nukleus – alle schwer und zweimorig sind, wobei nur die zweite Silbe in jedem Fall geschlossen ist. Für Wörter mit der Struktur VC.VC.V bzw. V.VC.V (die Onset-Konsonanten interessieren hier nicht) kann man eine Pänultima-Betonung vorhersagen, die in entsprechenden Experimenten auch mehr als drei Viertel der Versuchspersonen produzierten. Es gibt zu dieser Regel lexikalische Ausnahmen, aber eine starke Tendenz besteht und sollte nicht verschwiegen werden.

Anmerkung zu Diaspora: Vor Kurzem hörte ich eine Aussprache dieses Wortes mit Betonung auf der vorletzten Silbe. Das ist im Deutschen ungewöhnlich und scheint von Begriffen wie ›Diaphragma‹ [diaˈfʁaɡma] oder ›Diabetes‹ [diaˈbeːtɛs] beeinflusst zu sein. Interessant ist, dass die deutsche Lautung nicht von der griechischen abgeleitet werden kann: Im Fall von διάφραγμα [diápʰraɡma], dem griechischen Wort für ›Zwerchfell‹, findet sich im Original die Betonung, die wir bei ›Diaspora‹ haben – nur dass diesem deutschen Wort das griechische διασπορά [diasporá] für ›Verstreuung‹ mit einer ganz anderen Betonung zugrunde liegt. Nur bei διαβήτης [diabɛ́ːtɛːs] ist der Wortakzent erhalten geblieben. Woher die Betonung von ›Diaspora‹ kommt, die selbst unter den ›Dia-‹ beginnenden Begriffen im deutschen Wortschatz relativ allein dasteht, ist mir unbekannt. Ich kann nur darauf hinweisen, dass mehrere europäische Sprachen den Akzent auf dieselbe Weise platzieren, etwa ›diáspora‹ [diˈaspoɾa] im Spanischen bzw. [diˈaspoɾɐ] im Portugiesischen, ›diaspora‹ [diˈaspora] im Italienischen, ›диаспора‹  [dʲɪˈaspərə] im Russischen oder im Englischen – gleichfalls mit erheblicher Veränderung der Vokalqualitäten – ›diaspora‹ [daɪ̯ˈæspəɹə]. Ausnahmen sind Sprachen mit fixierter Betonung wie Französisch, dort heißt es ›diaspora‹ [djaspɔˈʀa], Ungarisch mit seiner Variante ›diaszpóra‹ [ˈdiɒspoːrɒ] oder Georgisch, das mit დიასპორა [diˈɑsp’ɔrɑ] das griechische Wort benutzt, wie das auch Japanisch und Koreanisch tun, und rein zufällig durch den üblichen Akzent auf der Antepänultima die Originalbetonung reproduziert.



Donnerstag, 21. Mai 2009
Wörter-[buːx] XI [Fester Link zum Beitrag]
  • Michail Afanas'evič Bulgakov (Михаил Афанасьевич Булгаков):
    [mʲɪxʌˈil əfʌˈnɑsʲjɪvʲɪtʲɕ bʊlˈɡɑkəf]
  • Grafite: [ɡɾaˈfit͜ʃɪ]
  • Gráinne: [ˈɡɾˠaːnʲə]
  • Sergio Marchionne: [ˈsɛrd͜ʒo marˈkjɔnːe]
  • Tadeusz Różewicz: [taˈdɛuʃ ruˈʒɛvʲitʃ]
  • Marija Jur'evna Šarapova (Мария Юрьевна Шарапова):
    [mʌˈrʲijə ˈjurʲjɪvə ʂʌˈrɑpo̞və]
  • Peter Sodann: [ˈpeːtɐ zoˈdan]
  • Dramatis Personae: [ˈdraːmatɪs pɛrˈsoːnaɪ̯] (lat.)
    bzw. [ˈdʁaːmatɪs pɛɐ̯ˈzoːnɛ] (dt.)
Anmerkung zu Grafite: Seit der Fußballer in Deutschland spielt, wird die Aussprache seines Spitznamens – bürgerlich heißt er Edinaldo Batista Líbano [ɛdʒiˈnaʊ̯dʊ baˈt͜ʃista ˈlibanʊ] – heiß diskutiert. Dabei gab es mehrere Umschwünge in der jeweils vorherrschenden Ansicht: Zunächst dominierte die naive Meinung, der Mann würde auf eine Weise ausgesprochen werden, die im Deutschen mit [ɡʁaˈfiːtə] brauchbar wiedergegeben sei. Dann setzte sich die Überzeugung durch, die Lautung müsse derart sein, dass [ɡʁaˈfɪt͜ʃ] oder [ɡʁaˈfɪt͜ʃi] die angemessene Eindeutschung sein, wobei Letzteres verdächtig nach den Fidschi-Inseln klang. Die bisher letzte Stufe besteht in einem Rückfall auf die erste Position, angereichert durch die Sicherheit, die zweite Ansicht werde höchstens von Ignoranten vertreten. Wasser auf die Mühlen der Vertreter der dritten Variante lieferte ein Interview mit Grafite (was übrigens ein portugiesisches Wort für ›Graffiti‹ ist) im ›Aktuellen Sportstudio‹, das man hier ansehen kann (ab 4’55”). Von dem, was der Fußballer selbst zu seinem Namen sagt, versteht man allerdings wenig; vieles geht im Applaus oder im Voiceover des Übersetzers unter. Zu hören sind unter anderem [ɡɾaˈfitɪ], [ɡɾaˈfit͜ʃɪ] und [ɡɾaˈfite]. Zu letzterer Aussprache sagt der Dolmetscher am Ende, diese sei – nicht mal das versteht man so genau – »richtig« oder »wichtig«, nachdem Grafite selbst bekannt hat, er fühle sich durch alle Lautungen seines Namens angesprochen. Was ist nun zutreffend? Ich bin weiterhin der Ansicht, dass das oben angegebene [ɡɾaˈfit͜ʃɪ] korrekt ist. Es scheint mir, als habe der Sportler feststellen müssen, dass man sich außerhalb von Brasilien mit der Originalaussprache seines Namens schwertut, und, weil er ein höflicher Mensch ist, beschlossen, den Deutschen entsprechend entgegenzukommen – so wie ein Schwede oder Deutscher, der ›Peter‹ heißt, sich in England womöglich als [ˈpiːtə] vorstellt, ohne damit ausdrücken zu wollen, so laute der Name in seinem Heimatland. Wer vertiefende Erkenntnisse oder Quellen in dieser Frage hat, möge sich melden.

Anmerkung zu Tadeusz Różewicz: Über die Realisierung der polnischen Grafeme ›sz‹, ›rz‹ und ›ż‹ herrscht Uneinigkeit. Es gibt zwei Positionen: Die erste – meines Erachtens phonetisch plausiblere – besteht in der Annahme, dass die Laute als [ʃ̻] und [ʒ̻], das heißt: mit dem Zungenblatt an den Alveolen artikuliert, richtig beschrieben sind; die zweite hält die Konsonanten für laminal und retroflex, also [ʂ̻] und [ʐ̻]. Unumstritten ist, dass die beiden Laute mit [ɕ] und [ʑ] kontrastieren, die unter anderem den Grafemen ›ś‹ und ›ź‹ entsprechen.



Mittwoch, 21. Januar 2009
Wörter-[buːx] X [Fester Link zum Beitrag]
  • Robert Desnos: [ʀɔˈbɛːʀ dɛsˈnoːs]
  • Athol Fugard: [ˈæθəl ˈfjuːɡɑːd]
  • Gāo Xíngjiàn (高行健): [˥˥ kɑu̯ ˧˥ ɕɪŋ ˥˩ tɕi̯ɛn]
  • Felicitas von Lovenberg: [feˈliːt͜sitas fɔn ˈloːvənbɛʁk]
  • Stanislav Jur’evič Markelov (Станислав Юрьевич Маркелов):
    [stənʲɪˈslaf ˈjurʲjɪvʲɪtʲɕ mʌrˈkʲeləf]
  • Lucien Tesnière: [lyˈsjɛ̃ tɛˈnjɛːʀ]
  • Thukydides (Θουκυδίδης): [tʰoːkydídɛːs] (altgr.) bzw. [θuciˈðiðis] (neugr.)
  • Julija Volodymyrivna Tymošenko (Юлія Володимирівна Тимошенко):
    [ˈjulijɑ ʋoloˈdɪmɪriʋnɑ tɪmoˈʃɛnko]
Anmerkung zu Stanislav Markelov: In diesem Fall ist es einmal mehr interessant zu beobachten, welche Wandlungen die Aussprache eines Namens durch Nachrichtensprecher binnen 24 Stunden durchmachen kann. Die erste ›tagesschau‹, die den Tod des russischen Menschenrechtsanwalts meldete, war die 20-Uhr-Ausgabe am 19. Januar. Jens Riewa sprach den Namen als [ˈstanɪslaf ˈmaːɐ̯kəlɔf] aus – die typische Leseaussprache eines nicht russophonen Deutschen. Das kann passieren, zumal die Meldung kurzfristig in die Sendung gerutscht und der Anwalt zuvor nicht bekannt genug gewesen sein mag, um bereits in der ARD-Aussprachedatenbank verzeichnet zu sein. Dass die gleiche Aussprache am Folgetag in der ›tagesschau‹ um 12 Uhr von Susanne Holst wieder zu hören war, wirkt hingegen wenig professionell. Zudem lief im Anschluss an die Moderation mit der falschen Lautung ein Beitrag von Olaf Bock aus Moskau, in dem wenigstens die Betonung des Nachnamens stimmte. Der Korrespondent sagte [ˈstaːnɪslaf maːɐ̯ˈkeːlɔf]. In der Hauptausgabe desselben Tages war der Nachname als [maʁˈkɛːlɔf] zu hören – von Sprecher Marc Bator mit recht offenem Vokal in der Pänultima artikuliert. Zu der Wortmeldung wurde ein Film von Ina Ruck gezeigt, ihres Zeichens studierte Slawistin und Leiterin des Moskauer ARD-Studios, die – mit erkennbar russischem Zungenschlag – [staːnɪsˈlaf marˈkje̞ːləf] sagte. Caren Miosga, ebenfalls Slawistin, hatte sich offensichtlich vorbereitet: In den ›tagesthemen‹ am 20.1. war von ihr [ˈstaːnɪslaf maːɐ̯ˈke̞ːlɔf] zu hören, im darauffolgenden Beitrag [ˈstaːnɪslaf maːɐ̯ˈkjeːlɔf] – Letzteres wieder von Olaf Bock aus Moskau, der dieses Mal die Palatalisierung des betonten Vokals im Nachnamen durch ein eingeschobenes [j] berücksichtigte. Damit war er nicht weit entfernt von der meines Erachtens idealen phonetischen Eindeutschung des Namens, nämlich [stanɪsˈlaf maːɐ̯ˈkjɛlɔf]. Dabei werden sowohl die Betonungen als auch die Vokalqualitäten des Russischen, so weit wie möglich, gewahrt. Im Deutschen wäre [mɐˈkjɛləf] eine ebenfalls phonologisch akzeptable Form, für den Einsatz in Nachrichtensendungen aber wegen seiner ungewohnten Laut-Buchstaben-Zuordnung nur zweite Wahl.

Anmerkung zu Thukydides: Die Lautung altgriechischer Namen in lebenden Sprachen ist zuweilen sonderbar, wie ich schon einmal in einem Beitrag vor anderthalb Jahren angemerkt hatte. Bei dem Namens des besagten Historikers hat sich von der klassisch attischen zur neugriechischen Lautung – wie man es in rund 2500 Jahren erwarten kann – einiges geändert. Gleich blieb jedoch die Betonung: Sie liegt in jedem Fall auf der vorletzten Silbe, wobei sie heute nicht mehr, wie vermutlich einst im Altgriechischen, als Pitch-Akzent realisiert wird. Merkwürdig ist nun, dass diese Betonung in kaum einer mitteleuropäischen Sprache wiederzufinden ist. Im Deutschen zum Beispiel sagen die meisten Altsprachler [tuˈkyːdidɛs], in Spanien heißt es [tuˈθiðiðes] bei der Schreibweise ›Tucídides‹, Briten schreiben ›Thucydides‹ und sagen [θjuˈsɪdədiːz]. Sprachen mit fixiertem Wortakzent wie das Französische, das ein dem Griechischen ähnliches [tysiˈdid] hat, oder das Polnische, wo es meines Wissens [tukiˈdɨdɛs] heißt, fallen bei dieser Betrachtung heraus.



Mittwoch, 5. November 2008
Wörter-[buːx] IX [Fester Link zum Beitrag]
  • Martti Ahtisaari: [ˈmɑrtːi ˈɑhtisɑːri]
  • Michael Crichton: [ˈmaɪkl̩ ˈkɹaɪtn̩]
  • Gault-Millau: [ɡo miˈjo]
  • Kaupþing banki: [ˈkʰøyːpθiŋk ˈpauɲ̥cɪ]
  • Jean-Marie Gustave Le Clézio: [ʒɑ̃maˈʀi ɡysˈtav ləkleˈzjo]
  • Liblice: [ˈlɪblɪt͜sɛ]
  • Venezia: [veˈnɛtːsi̯a]
  • Wigalois: [ˈviːɡalɔɪ̯s]
Dieses Mal: Keine Anmerkungen, aber vielen Dank an alle Ideenlieferanten!



Montag, 6. Oktober 2008
Wörter-[buːx] VIII [Fester Link zum Beitrag]
Herzliche Grüße gehen an eine Friedensforscherin mit ausdauernden Ohren:
  • Françoise Barré-Sinoussi: [fʀɑ̃ˈswaz baˈʀe sinuˈsi]
  • Chalkidiki (Χαλκιδική): [xalciðiˈci] (neugr.)
  • Csárdás: [ˈtʃaːrdaːʃ]
  • Martina Gedeck: [maʁˈtiːna ˈɡeːdɛk]
  • Lehman Brothers: [ˈliːmən ˈbɹʌðɚz]
  • Cem Özdemir: [dʒɛm ˈœsdeˌmiːɐ̯]
  • Mohammad Reza Pahlavi (محمدرضا پهلوی):
    [mohæˈmːæd ɾeˈzɒː pæhlæˈviː]
  • Somchai Wongsawat (สมชาย วงศ์สวัสดิ์):
    [sǒmtɕʰaːj woŋsàwát]
Anmerkung zum Csárdás: Die Sibilanten des Ungarischen bzw. deren grafemische Umsetzung ist für viele Deutsche ein Buch mit sieben Siegeln. Daher hier eine kompakte Übersicht: ›s‹ steht immer für [ʃ], wie in ›sárga‹ [ˈʃaːrɡɒ], was ›gelb‹ bedeutet, während [s] durch ›sz‹ – wie in ›szem‹ [sɛm] für ›Auge‹ – und [z] durch ›z‹ – wie in ›kéz‹ [keːz] für ›Hand‹ – ausgedrückt wird. Der stimmhafte postalveolare Frikativ [ʒ] wird ›zs‹ geschrieben, etwa in ›zseb‹ [ʒɛb], dem ungarischen Wort für ›Tasche‹. Zu den Affrikaten: [dz] ist – ganz nachvollziehbar – ›dz‹, zum Beispiel in der madjarisierten Schreib- und Sprechweise ›dzadzíki‹ [ˈdzɒdziːki], während für [ts] der einzelne Buchstabe ›c‹ steht, wie in ›kukac‹ [ˈkukɒts] – so nennen Ungarn unter anderem das @-Zeichen. Für [dʒ] kombiniert man einfach die Buchstaben, die für [ʒ] stehen, mit einem ›d‹ und kommt damit zu ›dzs‹; daher schreibt man ›Jazz‹, auf Englisch [dʒæz] gesprochen, im Ungarischen ›dzsessz‹ und spricht es – wie im Deutschen – [dʒɛs]. Die Buchstabenfolge für [tʃ] schließlich ist ›cs‹ – wie am Anfang von ›Csárdás‹ eben.

Anmerkung zu Martina Gedeck: Die Schauspielerin heißt in der Tat wie das, was das wohl bekannteste deutsche Wörterbuch definiert als »Gesamtheit aller für eine Person auf einen Tisch in bestimmter Anordnung hingelegten Gegenstände zur Benutzung bei einer Mahlzeit«. Diese Gesamtheit spricht man allerdings [ɡəˈdɛk].

Anmerkung zu Cem Özdemir: Im Durchschnitt hat sich die Aussprache des Nachnamens in letzter Zeit deutlich verbessert. Noch vor wenigen Jahren war [ˈœts-] weit verbreitet. Der Buchstabe ›z‹ steht im Türkischen, anders als in der deutschen Sprache, invariabel für [z]. Aufgrund der deutschen Auslautverhärtung wird aus dem am Ende der ersten Silbe stehenden /z/ ein [s]. In der Türkei würde man den Namen auf der letzten Silbe betonen; der Politiker scheint sich in seiner Präferenz an die deutsche Intuition angepasst zu haben. Der Weg vom populären, aber der ursprünglichen Lautung unangemessenen Wiedergabe des Vornamens als [tʃɛm] zum adäquaten [dʒɛm] scheint etwas weiter zu sein.



Freitag, 12. September 2008
Wörter-[buːx] VII [Fester Link zum Beitrag]
Dieses Mal mit speziellen Grüßen an eine schreibfreudige Irlandreisende:
  • Balmoral: [bælˈmɒɹəl]
  • Warren Beatty: [ˈwɑːɹən ˈbeɪɾi]
  • Fidel Alejandro Castro Ruz: [fiˈðel aleˈxandɾo ˈkastɾo rus]
  • Drumnadrochit: [ˌdɹʌmnəˈdɹɒxɪt]
  • Henning Mankell: [ˈhɛnɪŋ ˈmaŋkəl]
  • Ottawa: [ˈɑːɾəwə]
  • Sevastopol’ (Севастополь): [seʋɐˈstɔpolʲ] (ukrain.)
    bzw. [sʲɪvʌˈstopəlʲ] (russ.)
  • Brigitte Zypries: [bʁiˈɡɪtə ˈtsyːpʁɪs]
Anmerkung zu Warren Beatty: Andere Träger desselben Namens sprechen ihn [ˈbiːti] aus oder in Nordamerika – wie gezeigt mit Flapping des /t/ – [ˈbiːɾi].

Anmerkung zu Fidel Castro: Die Vokale im Spanischen, auch dem Kubas, sind präziser mit [e̞] und [o̞] anzugeben; sie haben also eine leicht offenere Qualität. In Kuba besteht die Tendenz, sowohl /s/ am Silbenende und vor Konsonanten wie auch das Phonem /x/ als [h] aussprechen. Ich habe sie nicht in die Transkription aufgenommen, da nicht alle Kubaner so sprechen. Die entsprechenden Anpassungen kann man sich leicht denken.

Anmerkung zu Ottawa: Die transkribierte Lautung geht von einer Varietät des Kanadischen aus, in der ›father‹ und ›bother‹ mit demselben Laut gesprochen werden und in der, wie in anderen nordamerikanischen Formen des Englischen, intervokalisches /t/ als Flap [ɾ] realisiert wird. Ein Brite würde wohl [ˈɒtəwə] sagen.



Mittwoch, 3. September 2008
Renault bringt ein neues SUV auf den Markt, habe ich in einer Anzeige gelesen. Und angefangen, darüber nachzudenken, wie man ›Koleos‹, den Namen des Gefährts, aussprechen soll. Eine Fernsehwerbung bestätigte meine Vermutung: [ʁəˈnoː koˈleːɔs] – in Deutschland. Nur: Wie heißt es in anderen Ländern? Im Französischen reiht sich das Kunstwort ein in die Gruppe der wenigen Begriffe, die auf [-os] enden; ich hatte auf deren kleine Zahl in einem Artikel vor über einem Jahr hingewiesen. Man sagt also [ʀə̹ˈno koleˈos]. Dieselbe Betonung wird im Spanischen angewandt, dort lautet die Produktbezeichnung [reˈnol koleˈos]. Ich kenne keine andere Sprache, in der im Markennamen ›Renault‹ die im französischen Original stummen Konsonanten nach dem [o] gesprochen werden. Dass diese Aussprache in Spanien nicht nur in der Werbung, sondern auch im Alltag verwendet wird, zeigt eine Suche nach ›Renol‹ auf spanischen Websites. Wer die Idee hatte, diese Lautung zu propagieren, vermag ich nicht zu sagen. Mit den phonologischen Erfordernissen des Spanischen kann man nicht argumentieren, da [no] eine akzeptable Silbe ist, wenn auch nicht in Verbindung mit der gegebenen Grafie. Die verbleibende Möglichkeit der Betonung, auf der ersten Silbe, wird in mindestens zwei europäischen Sprachen genutzt: In Italien spricht sich der Name des Wagens [reˈno ˈkɔːleɔs]; auf der britischen Insel heißt es [ˈɹɛnəʊ ˈkɒliɒs]. In den USA sagt man [ɹəˈnɑːlt] für den Hersteller – wenn man dort überhaupt auf die Idee kommt, über die Anschaffung eines solchen Autos zu diskutieren.



Wörter-[buːx] VI [Fester Link zum Beitrag]
Dieses Mal ein Personennamen-Spezial mit leichtem Schwerpunkt auf dem angloamerikanischen Raum, insbesondere den US-Präsidentschaftswahlen:
  • Paulo Coelho: [ˈpau̯lu ˈku̯eʎu]
  • Glenn Gould: [ɡlɛn ɡuːld]
  • Ruud Gullit: [ɾyːt ˈχʏlɪt]
  • Sergej Viktorovič Lavrov (Сергей Викторович Лавров):
    [sʲɪrˈɡʲej ˈvʲiktərəvʲɪtʲɕ lʌˈvrɔf]
  • Barack Obama: [bəˈɹɑːk oʊˈbɑːmə]
  • Sarah Palin: [ˈsɛɹə ˈpeɪlɪn]
  • Samakra Sunthonwet (สมัคร สุนทรเวช):
    [sàmákʰɾá sǔntʰɔːnwêːt̚]
  • Pete Townshend: [piːt ˈtaʊnzɛnd]
Anmerkung zu Barack Obama: Die korrekte Aussprache war hier schon am 9. Juni vergangenen Jahres zu lesen. Da war der Senator aus Illinois noch einer von acht Kandidaten der Demokratischen Partei für das Amt des US-Präsidenten. Das Ausmaß, das die Berichterstattung über den jungen Mann in Deutschland inzwischen erreicht hat, trägt offenbar kaum dazu bei, dass sich die richtige Lautung des Vornamens durchsetzt. Vielmehr ist umso häufiger die phonetische Insensibilität zahlreicher Sprecher, Moderatoren, Reporter in Funk und Fernsehen zu bestaunen: Da ist zum Beispiel Hillary Clinton zu hören, wie sie den Namen ihres Parteifreundes – natürlich richtig – ausspricht. Den Reporter hindert das nicht daran, in der unmittelbar folgenden Übersetzung des englischen O-Tons etwas wie [ˈbɛrək] zu produzieren. Dabei wäre es denkbar einfach, mit einer Eindeutschung wie [baˈʁaːk] wenigstens die Betonung und im Groben die Vokalqualitäten beizubehalten. Mangelt es an Wissen, Fähigkeiten oder, was ich glaube, an Interesse?



Samstag, 30. August 2008
Ein eher typografischer als phonetischer Lapsus war mein Schmunzler des Tages: Eine Mobilfunkfirma gratuliert via Zeitschriftenanzeige einer Olympiasiegerin, die für sie Werbung macht. Da die Olympischen Spiele in China stattgefunden haben, soll asiatisches Flair in die Anzeige. Also hat man sich ›Herzlichen Glückwunsch!‹ ins Chinesische übersetzen lassen: ›Göngxi!‹ Göng? Seit wann braucht man ein ›ö‹, um romanisiertes Mandarin zu schreiben? Vielleicht hat man in der Werbeagentur nur die Suchmaschine betätigt, vielleicht wurde ein Übersetzungsbüro um eine Fassung in lateinischer Schrift gebeten. Das Ergebnis dürfte in beiden Fällen die Pinyin-Wiedergabe von 恭喜 gewesen sein: ›Gōng Xǐ‹, sprich: [˥˥ kʊŋ ˨˩˦ ɕi]. Die Übersetzung ist korrekt, aber damit hört es dann leider schon auf.

Was die Diakritika über den Vokalen bedeuten, wissen regelmäßige Leser dieses Blogs: Jede Silbe im Chinesischen, das heißt: jedes Zeichen, ist zur Bedeutungsunterscheidung durch einen bestimmten Verlauf der Tonhöhe gekennzeichnet; man spricht von einer Konturtonsprache. Während regionale Varietäten des Chinesischen – trotz Unterschieden in Lexikon und Grammatik – einander im Schriftlichen erkennbar ähneln, decken sich deren Phonologien und damit auch die Toninventare kaum. Kantonesisch zum Beispiel hat insgesamt neun distinkte Tonkonturen, Mandarin deren vier, wenn man den sogenannten ›neutralen Ton‹ ausschließt. Diese Konturen werden in Pinyin, einem weit verbreiteten Transliterationssystem für das Hochchinesische, durch besagte Diakritika bezeichnet: Das Makron (ˉ) steht für einen konstant hohen Ton [˥˥], der Akut (´) für einen steigenden [˧˥], das Háček (ˇ) – im Tschechischen übrigens [ˈɦaːtʃɛk] lautend – für einen zunächst fallenden, dann steigenden [˨˩˦] und der Gravis (`) für einen fallenden Ton [˥˩]. Man illustriert dies typischerweise mit der Silbe ›ma‹, da sie mit allen fünf Tönen eine Bedeutung hat: ›Ma‹, mit neutralem Ton, dient als Fragepartikel in Entscheidungsfragen, ›mā‹ bedeutet ›Mutter‹, ›má‹ heißt ›Hanf‹, als ›mǎ‹ bezeichnet man ein Pferd, ›mà‹, mit fallendem Ton, kann wie ein Verb mit der Bedeutung ›schimpfen‹ verwendet werden.

In der Werbeagentur konnte man mit den Tonzeichen offensichtlich nichts anfangen. Auch die in der Anzeige verwendete Schriftart erlaubt deren Darstellung nicht. Doch statt die Diakritika entfallen zu lassen, was außerhalb von Deutschland schon manchen Müller zum ›Muller‹ gemacht hat und in diesem Fall sogar akzeptabel gewesen wäre, wurde aus ›Gōng‹ eben ›Göng‹. Gut gemeint, aber in der Ausführung sonderbar. Vielleicht haben ein paar Chinesen die Anzeige auch gesehen und, wie ich, darüber grinsen müssen.



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