DAS PHONETIK-BLOG [foˈneːtɪkˌblɔk]


Donnerstag, 5. Juli 2007
Für Briten und die meisten anderen Muttersprachler des Englischen dürfte der Anfang meines Beitrags redundant sein. Zahlreiche Deutsche jedoch – ich schließe mich ausdrücklich ein – scheinen gerne zu vergessen, woran ich heute dezent erinnert wurde (danke, Beeke!): Die Themse spricht sich im Englischen nicht etwa mit einem Diphthong, sondern [tɛmz]. Damit es auch für Briten interessant wird, habe ich zwei Handvoll Exonyme des Flusses gesammelt. Beginnen wir in Deutschland: Dort nennt man ihn Themse, was man [ˈtɛmzə] spricht. Für Franzosen handelt es sich um la Tamise [taˈmiz]. In diesem Kontext wird [i] meist lang gesprochen; bedeutungsunterscheidend ist diese Quantität jedoch nicht. Für Italiener fließt durch London il Tamigi – beachte das Genus! – mit der Aussprache [taˈmiːdʒi]. Auch in Spanien ist dieser Strom männlich: El Támesis wird [ˈtamesis] gesprochen. Im Portugiesischen ist die Schreibweise Tâmisa (auch ohne Zirkumflex) verbreitet, was man in Europa [ˈtɐmizɐ] spricht. Bevor wir zu Sprachen mit anderen Schriftsystemen als dem lateinischen Alphabet kommen, sei auf die niederländische Theems [teːms] – auch mit dem Diphthong [eɪ] eng zu transkribieren –, die polnische Tamiza [taˈmiza] sowie die ungarische Temze [ˈt̪ɛmz̻ɛ] hingewiesen; [t] wird im Ungarischen dental, [z] laminal artikuliert. In Griechenland schreibt man Τάμεσης und spricht [ˈtame̞s̺is̺]; auch hier bemerkt der Kenner ein kleines Feuerwerk von Diakritika, die auf ein etwas stärker geöffnetes [e], das man genauso gut [ɛ̝] schreiben könnte, und eine apikale Aussprache von [s] hinweisen. Die kyrillische Schreibweise ist Темза, dessen Lautung [ˈtʲe̞mzə]. Japaner schreiben den Fluss テムズ und sprechen ihn [temɯzɯ]. Unsere kleine phonetische Schifffahrt endet im Osten, wo Chinesen 泰晤士河 (Pinyin: Tài Wù Shì Hé) schreiben und auf Mandarin [˥˩ tʰaɪ ˥˩ wu ˥˩ ʂɨ ˧˥ xɤ] sprechen. Ich hoffe, dass bei so vielen Sprachen niemand seekrank geworden ist.



Camille Saint-Saëns [Fester Link zum Beitrag]
Meist kann man sich auf Diakritika als Hinweis auf die korrekte Aussprache eines Wortes verlassen. Schließlich ist das eine ihrer wichtigsten Funktionen. Manchmal jedoch wird man an der Nase herumgeführt, wenn auch nicht aus bösem Willen. Das Trema in dem Namen des Komponisten und Musikers weist nur scheinbar auf das hin, was man im Französischen erwartet: eine getrennte Aussprache des e von dem vorangehenden Vokal. Tatsächlich spricht man den Namen [kaˈmij sɛ̃ˈsɑ̃s] – der Buchstabe mit der Diärese bleibt stumm. Dieselbe Aussprache gilt für den Namen der Schriftstellerin, die man in der Regel schlicht Madame de Staël nennt; er lautet [maˈdam dəˈstal]. Ein weiterer französischer Organist und Komponist, dessen Name die Intuition auch ohne Trema ins Stocken zu bringen in der Lage ist, heißt Olivier Messiaen. Die korrekte Lautung in diesem Fall ist [ɔliˈvje mɛˈsjɑ̃].



Als Ehrenrettung für Al Stewart, der an Jacqueline Bissets Namen gescheitert war, möchte ich seinen Titel Roads to Moscow (1974) anführen. Darin heißt es:

All summer they drove us back through the Ukraine
Smolensk and Vyazma soon fell
By autumn we stood with our backs to the town of Orel
(Vollständiger Songtext: Link)

Angenehmerweise hört sich die Lautung, die Al Stewart für die erste Stadt wählt, nicht ausschließlich britisch, sondern ein wenig so an, als hätte er sich über die Aussprache schlaugemacht. Man schreibt auf Kyrillisch Смоленск und spricht [smʌˈlʲe̞nsk]. Die anderen beiden Städte schreibt man im Russischen übrigens Вязьма und Орёл; sie sprechen sich [ˈvjazʲmə] bzw. [ʌˈrʲoɫ]. So, vorerst genug Schleichwerbung für Al Stewart ;-)



Dienstag, 3. Juli 2007
Jacqueline Bisset [Fester Link zum Beitrag]
Der britische Singer/Songwriter Al Stewart nahm 1970 ein Stück mit dem Titel Clifton in the Rain auf, in dem die Schauspielerin angesprochen wird. Die Strophe mit den betreffenden Zeilen lautet:

Jacqueline Bisset
I saw your movie
Wondered if you really felt that way
Do you ever fear
The images of Hollywood?
Have you felt a shadow of its pain?
I thought of you in Clifton in the rain
(Vollständiger Songtext: Link)

Als Reim mit way im dritten Vers kann der Nachname Bissets nur [bɪˈseɪ] gesprochen bzw. gesungen werden – und wird es, wie man auf Al Stewarts Aufnahme hört. Dummerweise ist das falsch. Die korrekte Lautung des Namens ist nämlich [ˈdʒækəlɪn ˈbɪsɪt]. Stewart bekannte sich in einem Interview zu seinem Irrtum, singt aber auf Konzerten weiterhin die falsche Fassung – nach seinen Angaben aus Gewohnheit und um des Reimes willen.



Mittwoch, 27. Juni 2007
Die korrekte Aussprache seines Namens ist trotz der jüngsten Kontroverse über seinen Ritter­schlag vielen deutsch- und englischsprachigen Menschen unbekannt. Interessant sein könnte ein Blick auf die Schreibweise und zugehörige Aussprache des Namens in zwei Sprachen In­diens, wo Rushdie geboren ist: Auf Urdu schreibt man seinen Namen سَلمان رُشدی und spricht ihn [salmɑːn rʊʃdi]. In der Schreibweise, die hier angeführt ist, habe ich mittels eines Zabar im Vornamen sowie eines Pesch im Nachnamen zwei sonst nicht geschriebene Vokale angege­ben. Ich füge keine Betonung hinzu, weil sie in dieser Sprache nicht distinktiv ist. Auf Hin­di, geschrieben in Devanāgarī, sieht der Name wie folgt aus: सलमान रश्दी. Die Lautung ist, wie zu erwarten, ähnlich und kann ebenfalls ohne Betonungsmarkierung transkribiert werden: [sɐlmɑ̃ːn rɐʃd̪iː]. Die Nasalisierung im Vornamen ist rein allophonisch und tritt in Hindi stets auf, wenn ein Vokal vor oder hinter einem nasalen Konsonanten steht. Und was machen nun wir aus diesen phonetischen Erkenntnissen in Europa? Die bevorzugte Lautung des Au­tors im Englischen ist [sælˈmɑːn ˈɹʊʃdi] – ziemlich nah an den anderen beiden Aussprachen.



Everything But The … [Fester Link zum Beitrag]
Die englische Popband Everything But The Girl existiert seit 1982; ihren Namen bezieht sie von einem Schild in einem Möbelgeschäft in Hull, auf dem gestanden haben soll: “For your bedroom needs, we sell everything but the girl.” Die Aussprache des Bandnamens ist im Englischen demzufolge relativ banal: [ˈɛvɹiθɪŋ bət ðəˈɡɜːl]. Im Französischen kann man damit nett reimen, wie Marc Lavoine in seinem textlich nicht gerade der Hochliteratur zuzurechenden Titel Je me sens si seul (2005) zeigt:

Je me sens si seul
Tu me manques tant
Que j’ecoute le souffle du vent
Tu me manques tant
Je me sens si seul
Que j’ecoute everything
Que j’ecoute everything
Everything But The Girl

Die Reimwörter sind – jeweils in der Lautung ihrer Herkunftssprache – seul [sœl] und girl [ɡɜːl]. In dem französischen Lied verlockt der mögliche Reim dazu, girl [ɡœl] zu sprechen. Tatsächlich erinnert die Qualität des Vokals, den Marc Lavoine produziert, mehr an [œ] als an [ɜ̝] (RP) – und klingt damit nach gueule. Meine Fresse, diese Franzosen!



Dienstag, 26. Juni 2007
Robert Zoellick [Fester Link zum Beitrag]
Gestern wurde Zoellick vom Exekutivrat der Weltbank einstimmig als Nachfolger Paul Wolfowitz’ im Amt des Präsidenten der Finanzinstitution vorgeschlagen. Die Aussprache seines Namens, vollständig: Robert Bruce Zoellick, ist bisher nicht zu allen deutschen Sprechern durchgedrungen. Sie lautet: [ˈɹɑːbɚt bɹuːs ˈzɛlɪk]. Im amerikanischen Englisch kann oe unter anderem für [oʊ] stehen (wie in goes), für [ʌ] (wie in does), für [iː] (wie in amoeba), aber auch für [uː] (wie in canoe) – oder eben für [ɛ] (wie in roentgen). Man muss sich die Aussprache von Zoellicks Namens also einfach merken, aber es lohnt sich: Er tritt am Sonntag eine fünfjährige Amtszeit an, in der sicher von ihm zu hören sein wird.



Montag, 25. Juni 2007
Ganz oben in den französischen Singlecharts steht derzeit das Lied eines Castingstars namens Christophe Willem. Wie man auf der offiziellen Website des Interpreten (Link) nachlesen kann, heißt der von ihm gesungene Titel Double je (dt. Doppeltes Ich). Über Suchmaschinen findet man jedoch zahlreiche Seiten, die den Titel als Double jeu führen. Warum? Die Wörterbuchtranskriptionen, die auf der Phonologie basieren, helfen leider nicht weiter: Je wird demnach [ʒə] ausgesprochen, jeu hingegen [ʒø] – zwei zweifellos unterschiedliche, nicht einmal so ähnliche Laute. Die Antwort auf die Frage, wie das Schwa im Französischen phonetisch realisiert wird, löst allerdings das Rätsel: Die enge Transkription [ə̹] zeigt, dass der Laut mit erheblich gerundeten Lippen gesprochen wird. Da [ø] die gerundete Aussprache von [e] ist, dessen zentralisierte Variante wiederum [ə] darstellt, ist es wenig verwunderlich, dass je und jeu im Französischen, zumal im Gesang, fast homophon sind. Aus diesem Grund wird in Lehrbüchern [ø] statt [ə] als Aussprache von E beim Buchstabieren empfohlen.



Sonntag, 24. Juni 2007
Anhand dieses Wortes kann man erkennen, dass Präskription gerade im Bereich der Aussprache nur sehr bedingt funktioniert. Jeder weiß, dass von Nachschlagewerken eine gewisse Autorität verlangt wird, die nicht jeden Regelbruch des alltäglichen Sprachgebrauchs rechtfertigt. Die Aussprache von Charisma im Deutschen habe ich selten anders gehört als [ˈkaːrɪsma]. Die marginalen Varianten, die mir begegnet sind, bestehen in einer Verkürzung des ersten Vokals bzw. einer Betonung auf der zweiten Silbe. Dessen ungeachtet verlangen der Aussprache-DUDEN (5. Auflage, 2003 – hat sich da etwas geändert?) und das Deutsche Universalwörterbuch aus demselben Verlag unnachgiebig nach [ˈçaːrɪsma] – allenfalls, wie bekannt, mit Kurzvokal und Pänultimabetonung, alternativlos jedoch mit [ç]. Warum?

Der Begriff war schon im Altgriechischen bekannt, wo man ihn χάρισμα schrieb; er bezeichnete eine Gunst, die vonseiten der Götter gewährt werden konnte. Auch ohne mich allzu weit auf das verminte Feld akademischen Disputs über die Rekonstruktion der Phonetik toter Sprachen zu begeben, kann festgehalten werden, dass Chi im klassischen attischen Dialekt des Altgriechischen [kʰ] gesprochen wurde. 1:0 für die meisten Deutschen. Irgendwann muss sich die Aussprache zu [x] gewandelt haben, da dies den Lautwert des Buchstabens im Neugriechischen darstellt. Zwar spricht man Chi vor Vorderzungenvokalen als [ç], das der DUDEN favorisiert. Allerdings wird [a] im Neugriechischen als Hinterzungenvokal behandelt, sodass nur die Lautung [ˈχarisma] möglich ist.

Insgesamt sehe ich weder sprachpraktische noch wissenschaftliche Gründe für die Aussprache [ˈçaːrɪsma]. Ebenfalls höchstens als Gegenargument taugen die geringe Zahl von Wörtern, die im Deutschen [ç] anlauten, sowie die Tendenz, diese wenigen Wörter tatsächlich mit [ʃ] zu sprechen. Kann das populärste deutsche Wörterbuch diese Fakten dauerhaft ignorieren? Es kann offenbar nicht. In der aktuellen Auflage des ersten DUDEN-Bandes Die deutsche Rechtschreibung steht die einzige verbreitete Lautung des Wortes Charisma immerhin als Variante, die wie folgt kommentiert wird:

»Das Substantiv stammt aus dem Griechischen und wird, obwohl häufig mit [k-] ausgesprochen, wie das Herkunftswort mit Ch- geschrieben.«

Langsam mahlen die Mühlen in Mannheim, aber sie mahlen – wie man sieht.



Samstag, 23. Juni 2007
Im Deutschen herrscht regionale Variabilität, was die Aussprache des Vokals o in dem Wort Rost (in der Bedeutung Gitter) bzw. des Vokals ö in der Verbalableitung rösten angeht. Die im deutschen Sprachraum verbreitetsten Formen lauten [rɔst] bzw. [ˈrœstn̩], wobei [r] jeweils für alle freien Varianten des Phonems steht. Nördlich der Mosel und östlich des Rheins ist diese Lautung praktisch konkurrenzlos. In dem Bereich, den diese beiden Flüsse einschließen, in der gesamten Schweiz sowie im Raum Dresden in Sachsen herrschen hingegen die Aussprachen [roːst] bzw. [ˈrøːstn̩] vor. Die dortigen Dialekte bewahren lautliche Formen, die schon im Alt- und Mittelhochdeutschen belegt sind. Die Aussprache mit kurzem Vokal dürfte auf orthographische Analogie mit Wörtern wie Kost, Most, Post etc. zurückzuführen sein. Die lexikographische Präskription hat sich bei der Auswahl der Standardlautung weder auf die eine noch auf die andere Seite schlagen wollen: Während bei Rost die häufigere Aussprache [rɔst] festgelegt wurde, schreibt Siebs als reine und gemäßigte Hochlautung – so der Untertitel seines Hauptwerks – des Verbs rösten die seltenere Aussprache [ˈrøːstn̩] vor. Im DUDEN-Aussprachewörterbuch wird zumindest bei letzterem Wort die Lautung mit offenem Vokal als Variante angegeben.

Eine vergleichbare, jedoch nicht regionale derart scharf umgrenzte Verteilung zeigt sich im Übrigen bei Wörtern wie Obst oder Krebs. Diese waren in früheren Sprachstufen zweisilbig (ahd. obaʒ, mhd. obeʒ; ahd. crebiʒ, mhd. krebiʒ); die daraus resultierende Aussprache mit Langvokal bewahren die meisten deutschen Varietäten bis heute. Gerade in dem Bereich, der für Rost und rösten lange geschlossene Vokale hat, sowie in Österreich und Teilen Bayerns koexistieren jedoch die Lautungen [ɔpst] und [krɛps], die allerdings nicht als standardsprachlich angesehen und nicht im DUDEN geführt werden.



Am kommenden Dienstag hat der brasilianische Musiker und Politiker Geburtstag. Sein Name spricht sich [ʒiwˈbɛhtu ʒiw]. Im brasilianischen Portugiesisch wird postvokalisches l als labiovelarer Approximant [w], auch Halbvokal genannt, realisiert. Das Ergebnis dieses Prozesses als [u̯], mit dem Diakritikum für unsilbische Laute, zu transkribieren, ist in der Romanistik nicht verbreitet. Die zweite Silbe des Vornamens könnte auch [bɛɾ] lauten; allerdings tendieren Brasilianer vermehrt dazu, nicht nur das [ʁ] des europäischen Portugiesisch, sondern auch den Flap in der Silbencoda als [h] bzw. [χ] – je nach Region – auszusprechen. Vor allem im absoluten Auslaut kann dieser uvulare bzw. glottale Frikativ vollständig ausfallen. Dies verstärkt in den meisten südamerikanischen Varietäten des Portugiesischen die Tendenz dieser Sprache zu offenen Silben, die durch die Unzulässigkeit von /n/ und /m/ am Silbenende und die dadurch verursachte Nasalisierung der vorangehenden Vokale ohnehin gegeben ist.



Es gibt ein Gedicht aus den Fleurs du Mal von Charles Baudelaire, das den Titel L’Albatros trägt. Der Dichter wird darin mit dem Vogel verglichen: Der eine wie der andere, der sich oberhalb des Irdischen fliegend souverän zu bewegen weiß, ist am Boden durch seine riesigen herabhängenden Schwingen gehbehindert und hässlich. Die erste Strophe des französischen Originaltexts lautet:

Souvent, pour s’amuser, les hommes d’équipage
Prennent des albatros, vastes oiseaux des mers,
Qui suivent, indolents compagnons de voyage,
Le navire glissant sur les gouffres amers.
(Vollständiges Gedicht: Link)

Das Wort albatros wird im Französischen [albaˈtʀos] ausgesprochen. Auch wenn man es regelmäßig, selbst von Franzosen, falsch hört: Das s ist nicht stumm. Unüblich, aber akzeptabel ist es, den Vokal offen zu sprechen. Die Zahl der Wörter im Französischen, in denen os am Wortende [os] lautet, ist äußerst begrenzt: Ihre Zahl in der aktuellen Auflage des Petit Robert de la langue française (60.000 Wörter) beträgt rund zwei Dutzend. Höchstens die Hälfte davon ist im Alltag halbwegs gebräuchlich, darunter: albinos (Albino), amnios (Fruchtblase), calvados (Apfelbranntwein), cosmos (Kosmos), mérinos (Schafrasse), rhinocéros (Nashorn), tétanos (Tetanus) und thermos (Thermoskanne). Nur sehr wenigen Franzosen dürfte die korrekte Definition von azygos (Adjektiv für unpaarige Körperteile) oder kouros (griechische Statue eines jungen Mannes) geläufig sein. Die Gemeinsamkeit fast aller Wörter mit dieser phonetischen Besonderheit ist ihre Herkunft aus dem Lateinischen oder Griechischen. Der Auslaut [ɔs] steht bei einigen der Begriffe in der Präferenz vor der Variante mit dem geschlosseneren Vokal.



Freitag, 22. Juni 2007
Bei der Enallage handelt es sich um eine rhetorische Figur, die sich durch die Zuordnung eines Adjektivs zu einem anderen Substantiv als dem semantisch passenden auszeichnet. Als klassische Exemplifikation dient das »blaue Lächeln seiner Augen« anstelle des »Lächelns seiner blauen Augen«. Ein Beispiel aus dem literarischen Gebrauch liefert der Österreichischer Robert Musil:

Dennoch umgab ihn die gutsitzende Ruhe seines Anzugs.
(Quelle: Metzler Literatur-Lexikon)

Auch wenn die Endung -age förmlich danach schreit, wie in zahlreichen geläufigen Fremdwörtern aus dem Französischen (Blamage, Etage, Massage, Visage usw.) betont und [aːʒə] ausgesprochen zu werden, läge man damit bei diesem Begriff falsch. Eingebürgert hat sich in der literaturwissenschaftlichen Praxis die Lautung [ɛnˈalaɡe]. Im Anlaut ist eine geschlossenere Vokalqualität möglich. Als ungebräuchliche, aber etymologisch konsequente Alternative bietet sich die Endbetonung an, da das Wort von altgriechisch ἐναλλαγή für »Vertauschung« kommt.



Dienstag, 19. Juni 2007
Die Aussprache dieses Wortes fällt Deutschen so leicht, weil auf dem Weg aus seiner Herkunftssprache einige orthographische Anpassungen vorgenommen wurden: So wurde aus dem ungarischen gulyás [ˈɡujaːʃ] das deutsche Gulasch [ˈɡuːlaʃ] – zwei Wörter, die sich fast gleich aussprechen. Missinterpretiert wurde bei der »Transkription« lediglich der Digraph ly, der im Ungarischen als [j] gesprochen wird. Um dieselbe Sache handelt es sich bei gulyás und Gulasch übrigens nicht: Das ungarische Gericht gulyás entspricht der deutschen Gulaschsuppe. Das deutsche Gulasch korrespondiert ungefähr mit zwei Gerichten, die man in Ungarn pörkölt [ˈpørkølt] oder – wenn man dem Essen Sauerrahm beigefügt hat – paprikás [ˈpɒprikaːʃ] nennt. Die Betonung im Ungarischen liegt, wie man sieht, stets auf der ersten Silbe – unproblematisch für jeden Ausländer. Für erhebliche Verwirrung zu sorgen vermag hingegen die Aussprache von s und sz. Auch wenn es der Intuition zuwiderläuft, lautet allein stehendes s im Ungarischen [ʃ], während die Buchstabenkombination sz einem simplen [s] entspricht. Eine Variante des hier erwähnten Essens, das Szegediner Gulasch mit Sauerkraut, spricht sich im Deutschen unter Beachtung der Laut-Buchstaben-Zuordnung des Ungarischen demnach: [ˈsɛɡɛdiːnɐ ˈɡuːlaʃ]. Die ungarische Bezeichnung für das Gericht, Székely gulyás [ˈseːkɛj ˈɡujaːʃ], hat witzigerweise mit der Stadt im Süden des Landes gar nichts zu tun. Sie ist nach dem Namen des Schriftstellers József Székely [ˈjoːʒɛf ˈseːkɛj] gebildet, dem ein Wirt, dessen Vorräte ausgingen, dieses Gericht erstmals serviert haben soll. Die Aussprache des s wird hier durch vorangehendes z zu [ʒ] verändert.



Montag, 18. Juni 2007
Gemeint ist die Past-Simple- bzw. Past-Participle-Form des englischen Verbs to shine. Die meisten Wörterbücher verzeichnen als einzige Aussprache [ʃɒn] bzw. [ʃɑːn] als Variante mit amerikanischer Vokalqualität. Meine Beobachtungen und die Onlineausgabe des Merriam-Webster (Link) widersprechen dem: Die verbreitetste Lautung der Verbform in den Vereinigten Staaten ist [ʃoʊn]. Vor kurzem hörte ich einen Amerikaner das Gedicht Musée des Beaux Arts des englischen Dichters W. H. Auden rezitieren. In der vierten Zeile des letzten Teils, der im Folgenden zu lesen ist, sprach er shone diphthongisch aus:

In Breughel’s Icarus, for instance: how everything turns away
Quite leisurely from the disaster; the ploughman may
Have heard the splash, the forsaken cry,
But for him it was not an important failure; the sun shone
As it had to on the white legs disappearing into the green
Water; and the expensive delicate ship that must have seen
Something amazing, a boy falling out of the sky,
Had somewhere to get to and sailed calmly on.
(Vollständiges Gedicht und Gemäldeabbildung: Link)

Sogleich wurde seine Aussprache korrigiert, und tatsächlich: In diesem Stück Lyrik ist die Lautung [ʃɒn] obligatorisch, um den Reim mit on in der letzten Zeile zu bewahren. Vielleicht hätte man von vornherein einen Briten das Gedicht lesen lassen sollen: Auden, rezitiert von einem Amerikaner, klingt so passend wie Allen Ginsbergs Howl mit britischem Akzent.



Samstag, 16. Juni 2007
Dashiell Hammett [Fester Link zum Beitrag]
Der volle Name des Krimi-Schriftstellers lautet Samuel Dashiell Hammett. Sein “middle name”, den er später als einzigen Vornamen führte, ist eine amerikanisierte Schreibweise des französischen Nachnamens De Chiel. In Anlehnung an die Betonung im Französischen, die stets auf der letzten Silbe liegt, muss man den Autor wie folgt aussprechen: [dæˈʃiːl ˈhæmət]. Andere Personen, die denselben Vornamen tragen, sprechen ihn allerdings [ˈdæʃl̩] – ob bewusst oder in Unkenntnis seiner Herkunft. Ein Ausweg aus dem Dilemma: Die Kurzform Dash, mit der sich auch Hammett rufen ließ, lautet stets [dæʃ] und befreit durch Einsilbigkeit von der Sorge um die richtige Betonung.



Die lateinische Eigenschreibweise des Unternehmensnamens 현대 (Revidierte Romanisierung: Hyeon Dae) verwirrt nahezu jeden Nicht-Koreaner bei der Aussprache. So geben für Sprecher des Deutschen weder u noch ai die Vokalqualität des Koreanischen adäquat wieder. Zwei positionsbedingte Allophone spielen bei der folgenden korrekten Aussprache eine Rolle: [çjʌnˈd̥ɛ]. Phonemisch ist der Anlaut /hj/, wovon der erste Laut vor [j] zu [ç] wird. /d/, das intervokalisch durchaus voll stimmhaft sein kann, spricht man im Koreanischen am Silbenkopf stimmlos und praktisch unaspiriert. Die Differenzierung zwischen den phonetisch sehr ähnlichen Vokalen [e] und [ɛ] ist im Schwinden begriffen.



Freitag, 15. Juni 2007
Michael Ondaatje [Fester Link zum Beitrag]
Das Gegengewicht zum Niederländer Mulisch, dessen Name eine englische Aussprache nahezulegen scheint, bildet Michael Ondaatje. Es bedarf keiner Niederländischkenntnisse, um sich bei seinem Namen die korrekte Lautung zu erschließen. Ondaatje, geboren in Ceylon (heute: Sri Lanka), hat unter anderem tamilische, singhalesische, portugiesische und nicht zuletzt niederländische Vorfahren; die Letzteren dürften den Nachnamen des Schriftstellers geliefert haben. Der lebt heute in Kanada und schreibt nur auf Englisch, so seinen bekanntesten Roman “The English Patient” (1992). Seinen Namen spricht man daher wie folgt aus: [ˈmaɪkl̩ ɔnˈdɑːtʃiː]. Diese Transkription berücksichtigt nicht das sogenannte Canadian raising, bei dem die Diphthonge [aɪ] und [aʊ] vor stimmlosen Lauten mit geschlossenerem zentralisiertem ersten Element gesprochen und dann meist [əɪ] und [əʊ] transkribiert werden, da zahlreiche Kanadier diese phonetische Besonderheit in ihrem Idiolekt nicht aufweisen.



Der Vorname dieses Schriftstellers verleitet zu einer englisch gefärbten Lautung. Der Mann ist allerdings Niederländer österreichischer Abstammung. Er wird in seinem Geburtsland wie folgt ausgesprochen: [ˈɦɑɾi ˈmuːlɪʃ]. Dies ist bemerkenswert, da u im Niederländischen üblicherweise mit der Aussprache [ʏ], [y] oder [yː] assoziiert ist. Mulisch scheint erfolgreich den phonetischen Germanismus zu pflegen. Auch die Buchstabenfolge sch in der Silbencoda des Nachnamens ist für das Niederländische recht ungewöhnlich; Wörter, in denen sie dort im Deutschen steht, lauten im Niederländischen in der Regel auf s aus. So wird beispielsweise aus dem deutschen Fisch [fɪʃ] der niederländische vis [fɪs]. Steht doch ein sch am Schluss eines niederländischen Wortes bzw. Eigennamens, wird es – wie in Bosch [bɔs] – ausgesprochen, als handele es sich um das übliche s. Im »Normalfall« am Anfang und im Inneren einer Silbe wird sch im Niederländischen [sχ] gesprochen. [ʃ] ist als marginales Phonem zu betrachten, das allenfalls in einigen Fremdwörtern und – wie man sieht – Namen zu hören ist. Man beachte: Es muss nicht sch, sondern kann auch ch (wie zum Beispiel in chef) geschrieben werden.



Mittwoch, 13. Juni 2007
Der Politiker, der bereits einige Jahre israelischer Ministerpräsident war, ist heute von der Knesset zum Staatspräsidenten des Landes gewählt worden. Auf Hebräisch schreibt sich sein Name mit allen Nikkud שִׁמְעוֹן פֶּרֶס. Nikkud sind die Punkte, die fakultativ – vor allem in Wörter- und Kinderbüchern – zur Angabe der Vokalisation hebräischer Wörter dienen, die sonst ausschließlich mit Buchstaben für Konsonanten geschrieben werden. Ausgesprochen wird Peres in Israel wie folgt: [ʃimˈʔo̞n ˈpe̞ʁe̞s]. Die Diakritika unter [o] und [e] kennzeichnen eine etwas offenere Aussprache der beiden Laute.



Mittwoch, 13. Juni 2007
Die Maskottchen der Olympischen Spiele 2008, 福娃 (Fú Wá) [˧˥ fu ˧˥ wɑ] in Peking heißen:

– 贝贝 (Bèi Bèi) [˥˩ pei ˥˩ pei]
– 晶晶 (Jīng Jīng) [˥˥ tɕiŋ ˥˥ tɕiŋ]
– 欢欢 (Huān Huān) [˥˥ xu̯an ˥˥ xu̯an]
– 迎迎 (Yíng Yíng) [˧˥ jiŋ ˧˥ jiŋ]
– 妮妮 (Nī Nī) [˥˥ ni ˥˥ ni]

Fügt man die einzelnen Zeichen aneinander, klingt das ähnlich wie der Satz 北京欢迎你 (Běi Jīng Huān Yíng Nǐ) [˨˩ pei ˥˥ tɕiŋ ˥˥ xu̯an ˧˥ jiŋ ˨˩˦ ni]. Zu Deutsch: »Peking heißt dich willkommen.«



Rabindranath Tagore [Fester Link zum Beitrag]
Der Schriftsteller wurde vor allem durch seinen Gedichtband Gitanjali (Bengalisch: গীতাঞ্জলি) bekannt. Wie man schon an den wenigen Buchstaben erkennt, die den Namens des Werks angeben, ist die bengalische Schrift eine graphisch sehr reizvolle. Interessant an ihr ist darüber hinaus, dass Konsonanten einen inhärenten Vokal besitzen. Durch einen anderen Vokal ersetzt werden kann er mittels Diakritika. Will man den inhärenten Vokal löschen, muss man ein hôshonto, das aussieht wie ein Gravisakzent, rechts unten platzieren. Phonetisch zeichnet sich die bengalische Sprache durch eine Differenzierung aspirierter und nicht-aspirierter Affrikaten und Plosive, die zum Teil retroflex gesprochen werden müssen, aus. Tagores Name (Bengalisch: রবীন্দ্রনাথ ঠাকুর) wird korrekt wie folgt ausgesprochen: [robin̪d̪ɾonat̪ʰ ʈʰakuɾ]. Der alveolare Trill am Wortanfang könnte auch, wie bei den anderen Vorkommen des R-Phonems im Inneren und am Ende des Namens, ein Flap sein. Interessant ist das Verhalten des N-Phonems, das – wie /l/ – grundsätzlich alveolar ist, sich aber dem Artikulationsort des folgenden Lauts anpasst, von palatal über retroflex bis dental. Ich gebe keine Betonung für Tagores Namen an, da ich in The Phonemes of Bengali (1960) von Charles A. Ferguson und Munier Chowdhury gelesen habe: “Stress in Bengali has no lexical role in the sense that its presence or position is a feature of lexical items such as morphemes or words.” Was mir bei dieser Studie, wie bei so vielen, unangenehm auffällt, sind die teilweise willkürlichen Schreibungskonventionen für Phone und Phoneme, die anstelle der zur Zeit der Veröffentlichung gültigen Zeichen des International Phonetic Alphabet (IPA) eingesetzt werden. Beim Leser sorgt diese Eigenbrötelei in der Regel für nichts als Verwirrung.



Jens Stoltenberg [Fester Link zum Beitrag]
Das Norwegische verwirrt mitunter dadurch, dass Vokalbuchstaben unerwartete Lautwerte zugewiesen bekommen und geschriebene Konsonanten nicht gesprochen werden: Beispielsweise ist für o in gewissen Kontexten die Aussprache [u] korrekt. Die Buchstaben d und g sind dafür anfällig, vor allem in der Silbencoda, stumm zu werden. Darüber hinaus plagen die Retroflexe, derer es einige gibt im Norwegischen, die meisten Norwegischlernenden. Tritt keiner dieser drei Fälle auf, kann Deutschen die Aussprache inklusive Betonung spontan gelingen. Kommen alle drei zusammen, wird es knifflig: Der Name des früheren norwegische Ministerpräsidenten Kjell Magne Bondevik vereinigt zwei der phonetischen Klippen auf sich. Die korrekte Aussprache lautet: [çɛl ˈmɑŋnə ˈbʊnəˌvɪk]. Wesentlich leichter haben es deutsche Nachrichtensprecher mit seinem Nachfolger Jens Stoltenberg – keine Retroflexe im Namen, keine stummen Konsonanten. Im Auslaut des Nachnamens unterscheidet sich die norwegische Aussprache jedoch nennenswert von einer intuitiven deutschen: [jɛns ˈstɔltn̩ˌbæɾj].



Vor manchen phonetischen Kuriositäten steht man auch als linguistisch interessierter Muttersprachler ratlos. Das deutsche Wort für ein Papiertuch, das bei und nach dem Essen zum Abwischen des Mundes gedacht ist, lautet »Serviette«. Der Begriff wurde direkt aus dem Französischen übernommen, wo er [sɛʀˈvjɛt] ausgesprochen wird und auch für »Handtuch« oder »Aktentasche« stehen kann. Die einzige mögliche Aussprache dieses Wortes im Deutschen ist laut DUDEN [zɛʁˈvi̯ɛtə]. Es handelt sich im Grunde um einen transparenten Fall der Laut-Buchstaben-Zuordnung. Man müsste meinen: Anders geht es nicht. Allerdings existiert folgende weitverbreitete Lautung: [zɛʁˈviːɐ̯tə] – ein Homophon des Verbs »servieren« in der 1./3. Person Singular im Indikativ bzw. Konjunktiv des Präteritums. Woher kommt das vokalisierte R? Man möchte glauben, auf einen isolierten Fall morpheminternen intrusive r im Deutschen gestoßen zu sein. Mehrere hundert Google-Treffer für die zu dieser Aussprache passendere Schreibweise zeigen: Die »Servierte« ist auf dem Vormarsch – vielleicht.



Der belgische Politiker, dessen Partei die gestrigen Parlamentswahlen gewonnen hat und der daher voraussichtlich neuer Ministerpräsident seines Landes wird, ist bilingual: Er spricht muttersprachlich Französisch und Niederländisch. In einem Land mit drei Amtssprachen – den Genannten und Deutsch – bedeutet dies, dass man den Namen des künftigen Regierungschefs auf unterschiedliche Weise richtig aussprechen kann. Welche die »ursprüngliche« Variante ist, lässt sich kaum bestimmen (und ist im Grunde unwichtig). Dafür, dass es die französische ist, spräche, dass der volle Name des Politikers Yves Camille Désiré Leterme lautet. Auch wenn er seit seiner Hochzeit nicht mehr so angesprochen worden sein mag, gebe ich die vollständige Aussprache an. Sie lautet: [iːv kaˈmij desiˈʀe ləˈtɛʀm]. Dafür, dass die niederländische Aussprache die »Hauptlautung« ist, könnte man in die Waagschale werfen, dass Leterme in Flandern, dem niederländischsprachigen Teil Belgiens geboren wurde und wirkt. Bei der Übertragung des Namens ins Niederländische spielen vor allem zwei Effekte eine Rolle: Erstens greift in dieser Sprache, wie im Deutschen, die Auslautverhärtung. Zweitens wird das auslautende e des Nachnamens nicht wie im Französischen stumm. Zusammen ergibt das: [iːf ləˈtɛɾmə]. Die deutsche Variante lasse ich unter den Tisch fallen, da sie bei einem Prozent deutschsprachiger Belgier ohne Herablassung als marginal betrachtet werden kann.



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