DAS PHONETIK-BLOG [foˈneːtɪkˌblɔk]
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Mittwoch, 17. März 2010
Widerspruch in sich [Fester Link zum Beitrag]
Viele User in der Wikipedia verraten auf ihren Benutzerseiten eine Menge privater und weniger privater Details über sich. Zu den weniger privaten, dafür umso nützlicheren Informationen zählt die Angabe der Sprachen, die der Benutzer beherrscht: Es ist zum Beispiel praktisch, zu wissen, dass man jemanden, der sehr gute Kenntnisse in einer Sprache angibt, auf einen darin verfassten Text hinweisen kann, ohne eine Übersetzung mitliefern zu müssen. Auch verzeiht man Nicht-Muttersprachlern gerne so manchen Irrtum, über den man sich bei Nativespeakern wundern würde. Damit die User diese Informationen kompakt und standardisiert einbinden können, gibt es sogenannte Babel-Vorlagen. Das sind kleine Kästchen, in deren linkem Teil auf farbigem Grund der Code der betreffenden Sprache nach ISO 639 angegeben wird; bei Muttersprachlern steht allein der Code, grün hinterlegt, bei Zweitsprachlern ist an den Code mit Bindestrich eine Ziffer angehängt – blau hinterlegt für Grundkenntnisse (1) bis nahezu muttersprachliche Kenntnisse (4), rot hinterlegt für kaum oder keine Kenntnisse (0). Im rechten Teil der Box ist eine Ausformulierung der links kurz dargestellten Inhalte zu lesen: Für ›fr-4‹ beispielsweise lautet der Text ›Cet utilisateur parle français à un niveau comparable à la langue maternelle‹, für ›pl-2‹ lautet er ›Ten użytkownik posługuje się językiem polskim na poziomie średnio zaawansowanym‹. Wie das so ist im Leben, laden derartige Möglichkeiten zum Spielen ein: Benutzer erzeugen eigene Vorlagen, in denen nicht Sprachkenntnisse, sondern regionale Herkunft, Weltanschauung und Hobbys angegeben sind – mit Fotos, Zeichnungen, Karten anstelle der Codes und teilweise amüsanten Texten. Ob man tatsächlich wissen wollte, dass derjenige, der gerade einen Artikel redigiert hat, atheistischer Kettenraucher aus Nordmecklenburg ist, sei dahingestellt.

Auf den Seiten einiger User findet man eine entsprechende Pseudo-Babel-Vorlage für das Internationale Phonetische Alphabet. Ich weiß nicht, wer sie im Original erstellt hat, aber das ist nicht weiter von Interesse. Anders als bei Sprachen existiert nicht für jedes Kenntnisniveau eine Vorlage; es gibt schließlich keine IPA-Muttersprachler, und anzugeben, dass man eben keine Lautschrift beherrscht, ist auch nicht besonders informativ. Gefunden habe ich Vorlagen unter anderem für die Niveaus 3 und 4, was – auf eine tatsächliche Sprache übertragen – mindestens sehr guten Kenntnissen entspricht. Der Text in der rechten Hälfte des Kastens ist, wie üblich, in der ›Sprache‹ gehalten, auf die sich die Vorlage bezieht, in diesem Fall also in Lautschrift. Er lautet: 'diːsɐ bə'nʊtsɐ hat seːɐ guːtə 'kʰəntnɪzə dəs 'ʔiː'pe'ʔaː.

Das bezweifle ich. Die Transkription dieses Sätzchens enthält zwei formale und mindestens sechs inhaltliche Fehler, davon ausgehend, dass deutsche Standardaussprache abgebildet werden soll. Das ist ziemlich viel für acht Wörter. Und ich meine nicht den ›Fehler‹, dass die Umschrift nicht von eckigen Klammern bzw. Schrägstrichen eingeschlossen ist, wie es in den meisten Fällen gemacht wird. Ich meine auch nicht, dass die Zeichen der Affrikate in ›Benutzer‹ nicht durch einen darunter gesetzten Bogen verbunden sind – das kann man machen, muss man aber nicht. Auch über die Notwendigkeit, die vorhersagbare Aspiration von [k] am Anfang einer betonten Silbe zu kennzeichnen, kann man geteilter Meinung sein. Was also ist eindeutig falsch? Besondere Schwierigkeiten scheint derjenige, dem diese Transkription anzulasten ist, mit alveolaren Frikativen zu haben. Drei von fünf sind falsch, also genau dann als stimmhaft angegeben, wenn sie stimmlos sind, und umgekehrt. Dem fünften Wort fehlt die bei mehrsilbigen Wörtern obligatorische Betonungsmarkierung, die hier vor der ersten Silbe stehen müsste. Auch ist dem Transkribenten offenbar die zentrale Eigenschaft des deutschen Schwa entgangen, die darin besteht, unbetonbar zu sein; sonst hätte er in der ersten Silbe von ›Kenntnisse‹ wohl stattdessen das korrekte [ɛ] eingesetzt. Zuletzt: Dem zweiten Vokal des Diphthongs in ›sehr‹ fehlt das Diakritikum für Unsilbischkeit.

Hinzu kommen, wie erwähnt, zwei Formfehler: Anstelle des Betonungszeichens [ˈ], das im IPA verwendet wird, hat der Benutzer das kürzere, tiefer sitzende Apostroph-Ersatzzeichen ['] benutzt. Statt zu [ɡ], dem Lautschriftzeichen für den stimmhaften velaren Plosiv, das diese zweistöckige Form haben soll, hat der Benutzer zum normalen ›g‹ gegriffen, das in manchen Schriften dreistöckig gezeichnet ist. Natürlich sind das Lappalien. Doch genauso wenig wie ich jemandem, der nicht weiß, dass ›ß‹ ein Buchstabe des Deutschen ist, sehr gute Kenntnisse in dieser Sprache attestieren würde, kann man meines Erachtens von sehr guter Beherrschung der Lautschrift sprechen, wenn gewisse Konventionen unbeachtet bleiben, die im Übrigen nicht grundlos sind: Die Form von Apostroph und ›g‹ variiert in einer Weise, die dem Duktus der jeweiligen Schrift gerecht wird, der optimalen Lesbarkeit von IPA-Transkriptionen aber nicht immer entgegenkommt. Gewährleistet wird diese nur, indem man die eigens für Lautschrift vorgesehenen Zeichen verwendet, die in guten Schriften besagten Formvorgaben entsprechen und dazu beitragen, dass die Transkription, wenn alle Fehler eliminiert sind, wie folgt aussieht: [ˈdiːzɐ bəˈnʊt͜sɐ hat zeːɐ̯ ˈɡuːtə ˈkɛntnɪsə dəs ˌˀiːˌpeːˈˀaː].

Letzte Aktualisierung:
21. Januar, 16:07
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