Dienstag, 29. Juni 2010
›Schland‹. Dieses Kurzwort war 2006, als die Fußball-WM in Deutschland stattfand, in vieler Munde; jetzt, da das Turnier in Südafrika läuft, hört man es wieder, wenn auch seltener. Der Begriff scheint tatsächlich erst seit vier Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung zu befinden; ich habe keine Belege auftreiben können, die wesentlich vor der WM 2006 datieren. Er entstand wohl aus den Schlachtgesängen von Fans der deutschen Mannschaft, in denen ›Deutschland‹ auf der zweiten Silbe betont wird, die sich ideal dehnen und grölen lässt. Dabei kam es zu einer Resyllabifizierung: Die Silbengrenze, die ursprünglich hinter dem [ʃ] gelegen hatte, verschob sich vor diesen Laut – unter Nichtbeachtung der Morphologie. Es gibt viele Fälle, in denen erst die Information aus diesem Bereich mögliche Segmentierungen ausschließt. ›Rauflustig‹ könnte sonst ohne Weiteres ›rau-flustig‹ getrennt werden. Und ›Deutschland‹ wurde zumindest 2006 eben ›Deut-schland‹ getrennt.

Zumindest ich frage mich: Warum ist das bei diesem Prozess entstandene Wort ›Schland‹ so hässlich? Letzte Erklärungen für derartige persönliche Empfindungen sind schwierig zu geben, aber die Linguistik hat sich auch immer wieder mit der subjektiv empfundenen Ästhetik von Wörtern beschäftigt – wenngleich das vor allem ein Forschungsgebiet längst vergangener Dekaden ist. Ein weder uninteressanter noch unumstrittener Ansatz in diesem Kontext ist die sogenannte Phonästhem-Theorie von John Rupert Firth (1890 – 1960), einem englischen Linguisten, dem wir auch den Begriff ›Kollokation‹ verdanken. Die Theorie besagt, dass Wörter von ähnlicher phonetischer Gestalt oft (oder zumindest in einigen prominenten Fällen) zu einem gemeinsamen Bedeutungsfeld gehören. Firths Annahme steht in einer Reihe mit früheren Ikonizitäts-Hypothesen, die ebenfalls davon ausgehen, dass submorphemische Einheiten, also Einheiten unterhalb der Ebene der kleinsten bedeutungstragenden Elemente, semantischen Wert haben können. Ein klassisches Beispiel ist die Reihe von Wörtern im Englischen, die mit /fl/ beginnt: flacker, flap, flash, flee, fleet, flick, flicker, fling, flip, flit, flitter, flurry, flutter, fly – all diese Begriffe beschreiben Aspekte oder Formen von rascher Bewegung. Kein Zufall, sagt Firth. Woher die Assoziation von Laut und Bedeutung kommt, ist indes eher unklar: Zugrunde liegen mag eine abstrakte Form von Lautmalerei, die sich in dem genannten Fall auf das Geräusch beziehen könnte, das durch einen Luftzug entsteht, den schnelle Bewegung verursacht. Existiert erst einmal eine kleine Gruppe von Wörtern, die auf dieser oder einer anderen Basis gebildet wurde, kann die Serie durch Analogie erweitert werden. Kognitiv ist die Paarung von Form und Bedeutung damit gleich auf zwei Weisen verankert, nämlich einerseits durch die onomatopoetische Motivation, die mehr oder weniger transparent sein kann, sowie andererseits durch das entstehende Paradigma.

Dass derartige Muster synchron zumindest bei der passiven Rezeption von Wörtern eine Rolle spielen, kann jeder an sich selbst überprüfen: Würde man, in einem fiktiven Kinderbuch, die zarte blondgelockte Fee ›Glurpf‹ nennen? Wohl kaum. Würde man annehmen, dass sich hinter ›Nipsi‹ ein Landmaschinenhersteller verbirgt? Eher nicht. Freilich repräsentieren solche Entscheidungen bloß Präferenzen, keine absoluten Regeln, aber der komische Effekt, der erzielt werden könnte, nennte man die Fee eben doch ›Glurpf‹, verdeutlicht die Erwartung. Man kann daher sagen: ›Schland‹ klingt für manche so hässlich und grob, weil erstens sein Anlaut ein wenig so klingt, als trete man mit einem Gummistiefel in knöchelhohen Matsch, und weil es zweitens lautliche Charakteristika mit Wörtern teilt, deren Bedeutung ins Negative, Zähe, Dreckige geht – oder kürzer: ins Schlechte. ›Schland‹ reimt sich auf ›Schmant‹, ein eher dickflüssiges Milchprodukt, wobei das Wort regional auch für Schlamm steht. ›Schland‹ teilt den Anlaut ferner mit Wörtern wie ›schlabbern‹, ›Schlacke‹, ›schlaff‹ und ›schlapp‹, ›schlaksig‹ und ›schlampig‹ sowie, wenn man einen Vokalwechsel erlaubt, mit ›schludern‹, ›schlunzen‹, ›schlutzen‹ und manchem mehr. Neutrale Wörter wie ›Schlaf‹ oder ›schlank‹ können wenig ausrichten gegen diese Übermacht an Begriffen, die auf Träges, Schmutziges, Unangenehmes hinweisen – jedenfalls in meinem Kopf.

PS: Da es sich hierbei ja um einen Beitrag in einem Phonetik-Blog handelt, sei noch die Aussprache des Schwanzwortes ›Schland‹ erwähnt: [ʃlant].



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