Freitag, 25. Juni 2010
Die Lösung des Verschlusses [Fester Link zum Beitrag]
Das Wort ›Lösung‹ ist polysem im Deutschen, hat also mehrere verwandte Bedeutungen: ›Lösung‹ bezeichnet Prozesse, wie in ›Die Lösung des Problems dauerte Stunden‹, aber auch Ergebnisse, wie in ›Natronlauge ist eine alkalische Lösung‹. In dem phonetischen Begriff ›Verschlusslösung‹* (engl. ›release‹) ist Ersteres gemeint: der artikulatorische Vorgang, während dessen die bei der Produktion eines Plosivs aufgebaute Spannung gelöst wird. Irgendwann muss die Luft ja wieder raus. In welcher Form sich die Verschlusslösung akustisch manifestiert, hängt zu einem erheblichen Teil von der lautlichen Umgebung ab, aber auch von der mehr oder weniger bewussten Entscheidung des einzelnen Sprechers. Mithilfe des IPA lassen sich vornehmlich vier Arten von Verschlusslösung unterscheiden.

Der Standardfall – auch insofern, als er nicht durch ein Diakritikum gekennzeichnet werden muss – ist die orale Lösung des Plosivs durch die Aussprache des entsprechenden Lautes. Dies geschieht häufig, wenn zum Beispiel kein weiteres Element folgt, wie in dt. ›Mast‹ [mast], oder ein Vokal, wie in frz. ›terre‹/›taire‹ [t⁼ɛːʀ], wobei das dem erweiterten IPA entnommene Zeichen [⁼] fakultativ anzeigt, dass der Plosiv unaspiriert ist.

Folgt einem Plosiv ein weiterer, ist die Lösung des ersten Verschlusses oft nicht oder kaum hörbar (›no audible release‹). Die Artikulationsorgane bewegen sich in die Stellung, die für die Produktion des Lautes erforderlich wäre, aber wenig Luft strömt aus, bevor die Position für den nächsten Laut eingenommen wird. Dies kann innerhalb eines Wortes vorkommen, wie in dem englischen Beispiel ›apt‹ [æp̚t], oder auch über Wortgrenzen hinweg, wie in dt. ›mit dem‹ [mɪt̚‿d̥eːm]. Dass der erste Plosiv nur schwach hörbar ist, bedeutet allerdings nicht, dass es eine Option wäre, ihn wegzulassen. Die Tatsache, dass man seinen Artikulationsapparat so formt, dass der Laut gebildet werden könnte, hat phonetische Auswirkungen auf umgebende Laute. Diese sogenannte Koartikulation sorgt dafür, dass sich angrenzende Laute annähern, sodass etwa ein Vokal nahe einem velaren Konsonant weiter hinten im Mund gesprochen wird, während der velare Konsonant unter Umständen nach vorne rückt, wenn der nächste Laut ein Vorderzungenvokal ist. Diese Möglichkeit der wechselseitigen Beeinflussung bestünde nicht, wenn einer der Laute komplett fehlt. Die unhörbare Verschlusslösung wird mitunter auch als ungelöster Verschluss (›unreleased stop‹) bezeichnet; dies ist inhaltlich aber insofern nicht ganz korrekt, als sich mithilfe bildgebender Verfahren zeigen lässt, dass selbst in solchen Fällen Luft entweicht, wobei das dabei entstehende Geräusch jedoch so schwach ist, dass es von der deutlich hörbaren Lösung des folgenden Plosivs überlagert wird. Neben den beschriebenen Fällen im Deutschen oder Englischen gibt es Sprachen, in denen Plosive auch in Positionen, in denen eine reguläre Verschlusslösung artikulatorisch unaufwändig wäre, unhörbar gelöst werden. Beispiele dafür sind das Thailändische, einige Varietäten des Chinesischen, das Indonesische und das Gayo – zwei austronesische Sprachen – sowie das Mambay, eine im Kamerun und im Tschad gesprochene Niger-Kongo-Sprache.

Nasale und laterale Verschlusslösungen hingegen entstehen üblicherweise nicht beliebig, sondern im entsprechenden phonetischen Kontext, das heißt: vor einem Nasal (also [m, n, ŋ] usw.) oder vor einem Lateral (also [l, ɬ, ʎ] usw.). Eine laterale Lösung ist zum Beispiel in dem deutschen Wort ›Trampel‹ [ˈtʁampˡl̩] oder im englischen ›little‹ [ˈlɪtˡl̩] wahrscheinlich und wird durch ein hochgestelltes [l] angezeigt. Das hochgestellte [n] kennzeichnet nasale Lösungen wie in dt. ›Laken‹ [ˈlaːkⁿŋ̍] oder engl. ›happen‹ [ˈhæpⁿm̩] (beide Wörter mit Assimilation des nasalen Artikulationsortes). Es bedürfte schon einiger artikulatorischer Mühe, den Plosiv hier auf andere Weise zu lösen. Eine gewisse Wahlfreiheit, was den Typ der Verschlusslösung angeht, besteht in einigen Sprachen allerdings doch: Viele Plosiv-Nasal- oder Plosiv-Lateral-Cluster im Deutschen und Englischen entstehen nämlich erst dadurch, dass ein zwischen den beiden Konsonanten stehendes Schwa elidiert wird. Dieser Prozess findet in flüssiger Sprache meist statt und unterbleibt eigentlich nur bei betont sorgfältiger und deutlicher Artikulation, wie sie von Bühnenschauspielern oder Sprechern mitunter zu hören ist. Lautet ›Laken‹ [ˈlaːkən] oder gar [ˈlaːkɛn], wie es Siebs selig noch fürs Theater empfahl, wird der Verschluss in der üblichen oralen Weise hörbar gelöst. Eine offene Frage ist, welche Variante man in diesem Fall bei der Transkription wählt: Band 6 der ›DUDEN‹-Reihe sowie das 2009 bei de Gruyter erschienene ›Deutsche Aussprachewörterbuch‹ haben sich für die Variante ohne Schwa entschieden, denn: »Die Phonemfolgen /əm/, /ən/, /əl/ werden nur bei langsamer und deutlicher Aussprache als [əm], [ən], [əl] […] gesprochen«, wie der DUDEN schreibt. Ich folge dieser Konvention, gebe aber zu, dass die Umschrift, die John Wells in seinem ›Longman Pronunciation Dictionary‹ wählt, ihren Reiz hat: Dort wird zum Beispiel das Wort ›button‹ als [ˈbʌtən] mit hochgestelltem Schwa transkribiert. Daraus ließen sich auch bei deutschen Wörtern beide Aussprachevarianten zweifelsfrei ableiten.

* Ich kenne kein Wort, das diesen etwas merkwürdigen Terminus ersetzen könnte. ›Verschlussauflösung‹ klingt umständlicher, als der millisekundenkurze Prozess de facto ist. ›Verschlusssprengung‹ ist für den als Standard beschriebenen Fall eventuell geeignet, vermittelt aber doch ein falsches Bild von Lösungen, bei denen gerade nichts gesprengt wird. Vielleicht sollte man, wie so oft, auf den englischen Begriff zurückgreifen, also ›release‹, der zwar bereits eine andere Denotation im Deutschen hat (Veröffentlichung von Musik oder Software), aber doch etwas weniger vieldeutig ist als ›Lösung‹.



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