Mittwoch, 11. Juli 2007
Der Name dieses Landes ist ein altes phonetisches Thema, das mit hübscher Regelmäßigkeit wiederbelebt wird – so dieser Tage, da das nordafrikanische Land in den Schlagzeilen ist. Die meisten Sprecher quält hörbar das y, das sich an einer für Deutsche ungewöhnlichen Stelle befindet und mit dem Laut [y] assoziiert wird. Wohl aus Gründen sprachlicher Ökonomie wird dieser Laut in der Praxis an eine angenehmere Stelle verlegt und das Land [ˈlyːbi̯ən] gesprochen. Von der präskriptiven Seite, dem Aussprache-DUDEN, ist diese phonetische Metathese nicht gedeckt: Dort wird die Lautung [ˈliːby̑ən] verlangt. Ein Blick ins Arabische zeigt, dass tatsächlich die Graphie den Laut im Deutschen an diese Position gebracht hat; vor Ort schreibt man ليبيا und spricht [ˈliːbɪjaː]. Das finale [a] kann man auch [æ] transkribieren; die Länge des letzten Vokals steht nur der Vollständigkeit halber, da eine quantitative Distinktion im Auslaut offener Silben entfällt. Die ARD hat für die Aussprache des deutschen Exonyms eine praktikable Lösung gefunden, die besagte Laut-Buchstaben-Zuordnung aufbricht: Sie empfiehlt die Aussprache [ˈliːbi̯ən], die vor allem in der tagesschau inzwischen fast ausschließlich zu hören ist. Im Übrigen steht diese phonetische Realisierung nicht alleine da: Für das Wort System zum Beispiel, das im DUDEN als [zʏsˈteːm] transkribiert wird, herrscht längst die Lautung [zɪsˈteːm] vor; Fälle wie die Vorsilbe poly verhalten sich analog.

Nachtrag 11/2011: Die Anlässe, über Libyen zu sprechen, sind nicht weniger geworden; die Fälle, in denen man [ˈlyːbi̯ən] hört, sind es auch nicht. Diese Lautung wählt, wenn ein Sprecher und zwei Korrespondenten den Ländernamen aussprechen, nach meinem Eindruck durchschnittlich mindestens einer von ihnen – auch noch in Sendungen von Rundfunk- und Fernsehanstalten der ARD, wo man immerhin Zugriff auf eine Datenbank mit Aussprache­empfehlungen hat. Jedes eher deskriptiv als präskriptiv arbeitende Aussprachewörterbuch müsste [ˈlyːbi̯ən] als entsprechend kommentierte Nebenvariante in seine nächste Auflage aufnehmen; vielleicht hätte das sogar längst geschehen müssen, denn statt der Frequenz der metathetischen Aussprache scheint sich vor allem die Frequenz des Wortes und damit die Wahrnehmbarkeit der ›Falschaussprache‹ in letzter Zeit geändert zu haben. Das gilt gleichermaßen für die Ableitungen ›Libyer‹ – normativ: [ˈliːby̑ɐ], tatsächlich oft: [ˈlyːbi̯ɐ] – und ›libysch‹ – normativ: [ˈliːbʏʃ], tatsächlich oft: [ˈlyːbɪʃ] –, wobei die DUDEN-Form des Adjektivs so fremd klingt, als hätte ich sie noch nie gehört. Die ganze Wortfamilie mit ihrem unsilbischen [y] und dem unbetonten [ʏʃ] ist ein Kuriosum, bei dem es mich nicht wunder­nimmt, dass es früher oder später auf sanfte – das wäre [ˈliːbi̯ən] – oder unsanfte Weise – das wäre [ˈlyːbi̯ən] – an gängigere Lautmuster angepasst wird. Die behäbigere Orthografie dürfte diesen phonetischen Entwicklungen noch eine Weile hinterherhinken.



Der Mann, der heute die vierte Etappe der 94. Tour de France gewonnen hat, ist Norweger. Er hat einen dieser Namen, die aussehen, als spreche man sie wie im Deutschen – und dann stimmt es doch wieder nicht! Die korrekte Lautung ist [tuːɾ ˈhʉːsˌhɔvd]. Interessant, aber für das Norwegische nicht ungewöhnlich ist die Aussprache von o als [u] sowie von u als [ʉ]. Deutsche beispielsweise hören letzteren Laut oft als [y]; tatsächlich wird er ebenfalls mit gerundeten Lippen, aber zentraler gesprochen. Die Etappe, auf der Hushovd siegte, ging übrigens von Villers-Cotterêts nach Joigny. Franzosen sprechen den ersten der beiden Orte [viˌlɛʀkɔˈtʀɛ], den zweiten [ʒwaˈɲi]. Morgen geht es von Chablis [ʃaˈbli] nach Autun [oˈtɛ̃]. Vor einigen Jahren noch wäre der Name des morgigen Zielorts [oˈtœ̃] gesprochen worden und wird von zahlreichen Wörterbüchern weiterhin so transkribiert. In der Praxis ist der gerundete nasalierte Vokal mit seinem ungerundeten Gegenstück zusammengefallen.



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