DAS PHONETIK-BLOG [foˈneːtɪkˌblɔk]
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Sonntag, 24. Juni 2007
Anhand dieses Wortes kann man erkennen, dass Präskription gerade im Bereich der Aussprache nur sehr bedingt funktioniert. Jeder weiß, dass von Nachschlagewerken eine gewisse Autorität verlangt wird, die nicht jeden Regelbruch des alltäglichen Sprachgebrauchs rechtfertigt. Die Aussprache von Charisma im Deutschen habe ich selten anders gehört als [ˈkaːrɪsma]. Die marginalen Varianten, die mir begegnet sind, bestehen in einer Verkürzung des ersten Vokals bzw. einer Betonung auf der zweiten Silbe. Dessen ungeachtet verlangen der Aussprache-DUDEN (5. Auflage, 2003 – hat sich da etwas geändert?) und das Deutsche Universalwörterbuch aus demselben Verlag unnachgiebig nach [ˈçaːrɪsma] – allenfalls, wie bekannt, mit Kurzvokal und Pänultimabetonung, alternativlos jedoch mit [ç]. Warum?

Der Begriff war schon im Altgriechischen bekannt, wo man ihn χάρισμα schrieb; er bezeichnete eine Gunst, die vonseiten der Götter gewährt werden konnte. Auch ohne mich allzu weit auf das verminte Feld akademischen Disputs über die Rekonstruktion der Phonetik toter Sprachen zu begeben, kann festgehalten werden, dass Chi im klassischen attischen Dialekt des Altgriechischen [kʰ] gesprochen wurde. 1:0 für die meisten Deutschen. Irgendwann muss sich die Aussprache zu [x] gewandelt haben, da dies den Lautwert des Buchstabens im Neugriechischen darstellt. Zwar spricht man Chi vor Vorderzungenvokalen als [ç], das der DUDEN favorisiert. Allerdings wird [a] im Neugriechischen als Hinterzungenvokal behandelt, sodass nur die Lautung [ˈχarisma] möglich ist.

Insgesamt sehe ich weder sprachpraktische noch wissenschaftliche Gründe für die Aussprache [ˈçaːrɪsma]. Ebenfalls höchstens als Gegenargument taugen die geringe Zahl von Wörtern, die im Deutschen [ç] anlauten, sowie die Tendenz, diese wenigen Wörter tatsächlich mit [ʃ] zu sprechen. Kann das populärste deutsche Wörterbuch diese Fakten dauerhaft ignorieren? Es kann offenbar nicht. In der aktuellen Auflage des ersten DUDEN-Bandes Die deutsche Rechtschreibung steht die einzige verbreitete Lautung des Wortes Charisma immerhin als Variante, die wie folgt kommentiert wird:

»Das Substantiv stammt aus dem Griechischen und wird, obwohl häufig mit [k-] ausgesprochen, wie das Herkunftswort mit Ch- geschrieben.«

Langsam mahlen die Mühlen in Mannheim, aber sie mahlen – wie man sieht.

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21. Januar, 16:07
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