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Sonntag, 20. März 2011
Ein anderer Akzent [Fester Link zum Beitrag]
Aus bekannten Gründen sind in den letzten Tagen japanische Orts- und Personennamen in den Nachrichten außerordentlich präsent gewesen. Je größer der journalistische Druck, desto weniger Zeit ist verständlicherweise für phonetische und phonologische Feinheiten. Deren einige will ich an dieser Stelle zu verdeutlichen versuchen.
Wortbetonung wird im Japanischen nicht über einen Stärkeakzent realisiert, der in vielen mitteleuropäischen Sprachen binär ausgeprägt ist und geringe Auswirkungen auf die Satzintonation hat. Nicht die Silbe, sondern die More (oder: Mora) ist im Japanischen das grundlegende lautliche Konzept. In manchen Fällen – etwa in ›Nagasaki‹ mit vier Silben und vier Moren – deckt sich die Zählung; in vielen anderen Fällen führt die Aufteilung in Silben und Moren zu unterschiedlichen Resultaten, so im Namen der Hauptstadt Tokio. Je nachdem, ob das ›i‹ als syllabisch oder nicht angesehen wird, hätte ›Tokio‹ zwei (To-kio) oder drei Silben (To-ki-o); im Japanischen hat das Wort vier Moren. Wie die Transkription mithilfe des gebräuchlichen Hepburn-Systems, ›Tōkyō‹, erahnen lässt, verteilen sich die beiden mit einem Makron gekennzeichneten Langvokale auf jeweils zwei Moren, sodass ›To-o-kyo-o‹ die korrekte moraische Einteilung des Wortes ist. Zusätzliche Moren können auch durch geminierte Konsonanten entstehen, die in anderen Sprachen, etwa Italienisch, den Silben zugeordnet würden, die bei einem einfachen Konsonanten schon bestünden (vgl. ›papa‹ [ˈpaːpa] vs. ›pappa‹ [ˈpapːa] mit jeweils zwei Silben). Ferner kann ein silbenfinales ›n‹ eine eigene More einnehmen (wie beispielsweise in ›Sendai‹, in Moren: ›Se-n-da-i‹). Nach der Einteilung in Moren ist es nun möglich, jeder More einen Akzent zuzuweisen. Das Standardjapanische, eine Sprache mit Pitch-Akzent (was ins Deutsche meist als melodischer oder musikalischer Akzent übersetzt wird), unterscheidet dabei allein zwischen hohem und tiefem Ton (obwohl die phonetische Realisierung komplexer ist, Stichwort: Tonkaskaden). Dabei werden Töne nicht willkürlich zugewiesen, sondern folgen einem System, das die Töne vor- und nachgelagerter Moren einbezieht. Klitika, zum Beispiel, schließen sich in vielen Fällen der tonalen Struktur des vorangehenden Wortes an. Für europäische Ohren hört es sich häufig so an, als sei in einem beispielsweise zwei- oder dreimorigen Wort die More mit hohem Ton das, was man etwa im Deutschen als die betonte Silbe bezeichnen würde. Ich weiß nicht, ob auch umgekehrt gilt, dass Muttersprachler des Japanischen eine Aussprache mit der Stärkebetonung auf dem, was die More mit hohem Ton wäre, als dem Original besonders ähnlich empfänden. Diese Faustregel scheitert übrigens in mindestens zwei Fällen: erstens, wenn sich Silbe und More nicht decken, sodass in einer anderen Sprache die Möglichkeit, den richtigen Teil des Wortes zu betonen, gar nicht besteht; zweitens, wenn ein Wort nicht bloß eine, sondern mehrere Moren mit hohem Ton kennt, was sich in Sprachen, die nur eine Hauptbetonung pro Wort vorsehen, schwerlich wiedergeben lässt. Als erweiterte Faustregel würde ich daher empfehlen, die Silbe zu betonen, der die erste von womöglich mehreren Moren mit hohem Ton zugeordnet werden kann. Nehmen wir noch einmal konkret den Namen der Hauptstadt, also ›Tōkyō‹ (東京). Hierbei handelt es sich um ein Wort, das als ›heiban‹ (平板), also wörtlich ›Fläche‹ oder ›Platte‹, beschrieben wird: Nur bei diesen als akzentlos geltenden Wörtern fehlt der Übergang von einer hohen zu einer tiefen More; stattdessen ist die erste More tieftonig, die folgenden tragen einen hohen Ton. Als Transkription für das Japanische wäre dementsprechend [toˈːki̯oː] oder [toˈoki̯oː] bzw., um Konsequenz bei der Schreibweise der Langvokale zu erreichen, [toˈoki̯oo] richtig. Alternativ ließe sich die Betonung als tonale Bewegung nach oben, ›Upstep‹ genannt, transkribieren, also dann [toꜛoki̯oo] (und Varianten), wobei [ꜛ] eine inoffizielle, dezentere Variante des eher aufdringlichen IPA-Symbols [↑] ist. Das Gegenstück wäre der Downstep, der etwa in ›Nagasaki‹ (長崎) zu hören ist, einem Wort mit tieftoniger erster und hochtoniger zweiter More: Oft wird hierbei das IPA-Zeichen für Nebenbetonung zweckentfremdet, um das Absinken der Tonhöhe nach der betonten More zu kennzeichnen, was in diesem Fall [naˈɡaˌsaki] ergäbe; andernfalls würde man [naꜛɡaꜜsaki] transkribieren – da möge jeder für sich selbst entscheiden, welche Konvention er deutlicher oder ästhetisch ansprechender findet. Die Anwendung meiner Faustregel für Sprachen ohne Pitch-Akzent ergäbe demnach eine Betonung auf der ersten Silbe im Fall von Tokio und eine auf der zweiten für Nagasaki. Letzteres stimmt nicht mit der etablierten Aussprache im Deutschen und Englischen überein. Das Gleiche gilt für Sendai (仙台) [ˈseˌɴdai], das in deutschen Medien meist auf der zweiten Silbe betont wurde, und Fukushima (福島) [ɸɯ̞̥̈ˈkɯ̞̈ˌɕima], bei dem die intuitive Betonung Deutschsprachiger auf die vorletzte Silbe fällt. Weitere japanische Namen, die jüngst viel zu hören waren, sind Tōhoku (東北) [ˈtoˌohokɯ̞̈], Miyagi (宮城) [ˈmiˌjaɡi] und Kurihara (栗原) [kɯ̞̈ˈɺ̠iˌhaɺ̠a] – wobei die Aussprache dieser Namen durch Deutsche variierte. Es ist eben schwierig, hier zumindest nah am Original zu liegen, wenn selbst das Hören der korrekten Tonfolge vielen Europäern Mühe bereitet. ... older stories
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