Donnerstag, 17. Januar 2008
Ich habe vor kurzem das »Handbuch der populären Musik« in die Finger bekommen. Das Nachschlagewerk ist jüngst bei Schott Music erschienen; geschrieben hat es Peter Wicke mit Wieland und Kai-Erik Ziegenrücker. Schon nach wenigen Seiten, die ich mit Interesse durchgeblättert hatte, bahnte sich der Linguist in mir seinen Weg. Positiv fällt nämlich auf, dass sich die Autoren nicht zu fein waren, zahlreiche Lemmata mit Lautschriftangaben in IPA zu versehen. Schließlich will ein Lexikon nicht nur Altbekanntes wiederkäuen, sondern Begriffe liefern, darunter solche, deren Aussprache unbekannt oder -gewöhnlich ist. Damit sie der Leser auch im Mündlichen gebrauchen kann, muss man ihm helfen. Bei dieser noblen Intention ist besagtes Handbuch leider stecken geblieben. Viele der IPA-Transkriptionen sind nämlich falsch – oder, um nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, mindestens unpräzise.

Ein paar Beispiele: In mindestens einem Fall wurde aus dem Punk [pʌŋk] der *[pʌɳk]. Dem kundigen Betrachter ist der Fehler sofort ersichtlich, doch der braucht keine Lautschrift für derart einfache Wörter. Dies ist nicht das einzige Mal, dass es drunter und drüber geht, wenn Symbole einander recht ähnlich sehen. Auch die Zeichen [i] und [ɪ] für das Englische werden nicht konsequent eingesetzt. Dadurch wird aus [kɪŋ], dem König von King Records, der *[kiŋ]. Das ist nicht folgenlos für die Aussprache, würde ich allerdings in Einzelfällen wie diesem als eine lässliche Sünde beiseite schieben. Die korrekte Variante kann selbst von Laien leicht erschlossen werden. Weniger gilt das bei groben Fehlern wie der Angabe *[rɑɡɑˈmʌfɪn] für Raggamuffin, das ich [ˈɹæɡəmʌfɪn] transkribieren würde. Doch auch bei deutschen Wörtern kann man sich auf die Lautschrift nicht verlassen: Aus den Kastagnetten, richtig: [kastanˈjɛtn̩], wurden *[kastaŋˈjətn]. Abgesehen davon, dass der velare Laut fehlt, der eine Assimilation von [n] zu [ŋ] rechtfertigt, ist [ə] im Deutschen kein betonbarer Vokal. Die Lautschrift gleich hinter der Sprachangabe »span.« erweckt zudem den falschen Eindruck, »Kastagnetten« sei ein Begriff direkt von der iberischen Halbinsel; dabei nennt man das Rhythmusinstrument in Spanien castañuelas [kastaˈɲwelas]. Bei dem portugiesischen Begriff rajão für eine bestimmte Gitarrentechnik wurde nicht nur die Tilde vergessen. Auch der Hinweis auf die Aussprache ist nicht korrekt: Statt *[raˈjaɔ] muss es [ʁɐˈʒɐ̃u] heißen.

Ein weiteres Problem ist, dass in Komposita, deren Bestandteile unter anderem die englische Graphie unverbunden lässt, nur die Betonung der Einzelwörter transkribiert wird. Mal passt es, wie bei [ˈmjuːzɪk hɔːl] für music hall, weil die einzige angegebene Betonung mit der Hauptbetonung des zusammengesetzten Begriffs zusammenfällt. Oft geht es schief, wie bei [njuː weɪv] für New Wave, wenn keines der Wörter für sich eine Betonungsmarkierung benötigt, sodass der Leser ahnungslos bleibt, oder – in anderen Fällen – das einzige Wort mit Betonungszeichen im Kontext des Kompositums nur eine Sekundärbetonung trüge. Ohnehin leidet die Transkription englischer Begriffe unter einem Defizit an Klarheit. Man hat vermieden, sich für die britische oder für die amerikanische Standardlautung zu entscheiden. Das führt dazu, dass jedes in rhotischen Dialekten gesprochene [r] in Klammern vermerkt wird. Doch die scheinbare Zweigleisigkeit endet da, wo sie begonnen hat. Alle anderen Unterschiede zwischen den Varietäten werden zugunsten der britischen Aussprache nivelliert: Dancing ist [ˈdɑːnsɪŋ], notes ist [nəʊts], hop ist [hɒp] – auch in Fällen transatlantischer Provenienz. Man hätte es besser machen können, vielleicht so: Jeder Terminus oder Name, der geografisch zuzuordnen ist, wird in der Lautung seines Herkunftslandes angegeben. Marginale Unterschiede zu GenAm oder RP, wie im Kanadischen oder Australischen, könnte man getrost übersehen. Alle Begriffe, von denen man nicht sagen kann, sie stammten aus einer bestimmten Region, werden in britischem Englisch angegeben. Man könnte genauso gut amerikanisches Englisch wählen, aber RP scheint mir für ein deutsches Nachschlagewerk näher zu liegen. So oder so: Auf die Festlegung sollte im Lexikon hingewiesen werden.

Für alle anderen Fehler – um sie zu beschreiben und zu beheben – bedürfte es vor allem Zeit. Zunächst müsste man nämlich herauszufinden, wie sie entstanden sind: Mangelte es bei der IPA-Redaktion für dieses Buch am phonetischen Verständnis oder »nur« an der Sorgfalt im Umgang mit den Zeichen? Ich weiß es leider nicht, bin mir aber sicher, dass es nicht allzu beckmesserisch ist, auf diese Fehler hinzuweisen. Wenn Transkriptionen nicht präzise sind, verkommen sie zur nutzlosen wie verzichtbaren Dekoration – nach dem Motto: »Mach das mal rein, Kalle, damit’s wie ein richtiges Lexikon aussieht.« Wenn der Aufwand betrieben würde, die notwendigen Verbesserungen, von denen ich einige hier angedeutet habe, in Angriff zu nehmen, könnte ein in jeder Hinsicht richtig gutes Lexikon daraus werden.



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